5 Fragen an ... Varujan Vosganian

5 Fragen an ... Varujan Vosganian

Ihr hochgelobter Roman Buch des Flüsterns war eine autobiographisch geprägte Geschichte über den Genozid an den Armeniern. Ihre Erzählungen in Als die Welt ganz war handeln vom Leben und Überleben im heutigen Rumänien. Warum dieser Themenwechsel?
Ich betrachte Buch des Flüsterns nicht als autobiographischen Roman. Auch wenn er in der Ich-Form erzählt ist, sind diese Erinnerungen nicht die meinen. Buch des Flüsterns beschreibt das Leben des 20. Jahrhunderts, mit all seinen Schicksalsschlägen, Weltkriegen, Konzentrationslagern, Massengräbern, Staatenlosen, Genoziden und autoritären Ideologien. Man bezeichnete den Roman als identitätsstiftend für das armenische Volk. Er ist es aber nicht nur für die Armenier, glaube ich, sondern auch für viele andere Menschen. Gerade wenn man über eine große Tragödie schreibt, schreibt man immer auch über alle großen Tragödien – sie haben ja keine Muttersprache, sie sind universell. Buch des Flüsterns erzählt zugleich auch vom Totalitarismus und von seinen Opfern. In dieser Hinsicht setzt mein neues Buch, _Als die Welt ganz war_, das Thema fort. Zwar ist das 20. Jahrhundert rein kalendarisch vorbei, mit seinen Folgen haben wir jedoch weiterhin zu leben. Ich schreibe natürlich über das gegenwärtige Rumänien. Jeder Autor muss über die Umgebung schreiben, die ihm vertraut ist, er ist ein Reiseführer für den Leser. Gleichzeitig sind die Gefühle und Ängste und Traumata, über die ich schreibe, allgemein menschlich.

Fast drei Jahrzehnte nach dem Sturz Ceausescus scheint seine Herrschaft nach wie vor wie eine dunkle Wolke über Rumänien zu hängen. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum das so ist?
Die Entnazifizierung Deutschlands (in Österreich war es ein wenig anders) war aus dem Grund ziemlich erfolgreich, weil sie gewissermaßen von außen durchgeführt wurde. Deutschland war besetzt, und in Nürnberg saßen ja die Alliierten zu Gericht. Stellen Sie sich einen Augenblick vor, ob und wie schnell die Deutschen entnazifiziert worden wären, hätte es keine Alliierten gegeben und wären die Deutschen gezwungen gewesen, ihre eigenen Richter auszuwählen. Welche Parteien wären da entstanden? Wer hätte darin das Sagen gehabt? Wer hätte die Täter von den Opfern unterschieden? Für uns ist es schwer, mit dem Kommunismus zu brechen, weil wir eben die Entscheidung zwischen Gut und Böse selbst zu treffen haben. Das ist nicht leicht. Befragen Sie zwei Juden irgendwo auf der Welt über den Holocaust, Sie werden ähnliche Antworten erhalten. Bei den Armeniern und dem Genozid an ihnen verhält es sich genauso. Befragen Sie aber zwei Rumänen über den Kommunismus, werden Sie vermutlich Verschiedenes zu hören bekommen. Für sie bedeutet der Kommunismus kein allgemeines Trauma – es gab Verlierer, es gab aber auch Gewinner. Die Unzufriedenheit mit dem Umschwung füttert die Niedergeschlagenheit und die Melancholie derjenigen, die zu schnell vergessen, wie es gewesen ist. Unglücklicherweise ist besonders die junge Generation, gelockt von den sogenannten sozialen Medien, anfällig für totalitäre Botschaften; da sie den Kommunismus nicht mehr kennengelernt hat, weiß sie nicht, wie man sich selbst verteidigt. Deshalb sind diese Jungen auch verletzlicher.
Wenn Europa Rumänien für ein zweitrangiges Land hält und sogar von „zwei Geschwindigkeiten in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“ spricht, erscheint der Kommunismus als Bollwerk des Nationalismus.

In den vier Erzählungen des Buches spielt der Transformationsprozess von der Diktatur Ceausescus hin zu einer offenen Gesellschaft eine große Rolle. Nach wie vor scheinen die Ursachen, die 1989 zu seinem Sturz führten, nicht zweifelsfrei geklärt, vor allem der Geheimdienst Securitate soll eine wesentliche Rolle gespielt haben. Wie sehen Sie das?
Der Fall des kommunistischen Regimes war aus inneren Gründen (das Hemmen jeder Privatinitiative, der Mangel an wirtschaftlicher Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit, die Verelendung der Bevölkerung), aber auch aus äußeren Gründen unvermeidlich. Das kommunistische System war unreformierbar. Jeder Versuch, etwas zu ändern, hätte nichts verbessert, sondern bloß zerstört. Ein Beweis dafür ist, dass der erste wirkliche Reformversuch, Glasnost und Perestroika, zum Zusammenbruch der UdSSR führte und wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe für den Fall des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa war. Es gab in Rumänien einige Dissidentengruppen, aber ich glaube nicht, dass eine stark genug war, um Ceau?escu zu ersetzen. Entscheidend war der internationale Kontext. Die Securitate wandte sich nicht gegen Ceausescu, aber als am 21. Dezember 1989 die Protestkundgebungen begannen, unterstützte sie ihn auch nicht. Außerdem hatte die Securitate in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember, bevor Ceausescu floh, das Militär aufgefordert, alle Waffendepots zu versiegeln, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, man würde auf die Menschen feuern. Deshalb hat die Securitate die Ereignisse von 1989 ohne große Beeinträchtigungen überstanden. Rumänien, das keine Dissidenten und antikommunistische Aktionen, wie es die Solidarnosc oder die Charta 77 waren, das auch keine Persönlichkeiten wie Václav Havel besaß, war das einzige Land im kommunistischen Block, in dem die historischen Parteien wieder etabliert wurden und die Kommunistische Partei unter anderem Namen an der Macht blieb. Aufgrund des Umstandes, dass es eine Restauration fast ohne Revolution gab, hat Rumänien seinen Neubeginn 1990 verpasst und ein Jahrzehnt versäumt, wovon es sich immer noch nicht erholt hat.

In einer der eindrucksvollsten Erzählungen Ihres Buches, Ein Bund Liebstöckel, kommt ein alter Bergarbeiter aus dem Schiltal nach Bukarest und versucht eine Fernsehjournalistin zu finden, die er Anfang der 90er verprügelt hat, um sie dafür um Verzeihung zu bitten, was er und seine Kollegen ihr und ihren Freunden angetan haben. Glauben Sie, dass die Menschen die Kluft zwischen den sozialen und politischen Klassen überwinden wollen? Und welche Rolle spielen die politischen Parteien und die Justiz? Heute gibt es in den Städten wieder Demonstrationen gegen die Regierung.
Innerhalb des politischen Establishments Rumäniens wird das nicht so gesehen, der Blick der Gesellschaft ist jedoch geteilt. Ich halte solche Teilung für falsch, weil Termini wie korrupt und antikorrupt, pro- und antiwestlich leicht manipulierbar und missverständlich sind. Ohne das geringste Interesse für diejenigen, die es betrifft, werden Themen und Ziele formuliert oder kreiert, die sowohl die Öffentlichkeit als auch die politische Klasse schwächen sollen.
Während des vergangenen Jahrzehnts waren Geheimdienst und Richter dabei sehr fleißig. Auch die Demonstrationen sind ein Teil dieser Strategie. Sie drücken eine Feindschaft gegen das Parteiensystem und den Parlamentarismus aus, sind gerichtet gegen Parteien und ihre Führer, haben aber keine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen soll. Aus den Demonstrationen vor knapp einem Jahr ist niemand hervorgegangen, der konkrete Forderungen artikuliert hätte.

Die Protagonisten Ihrer Erzählungen sind allesamt Außenseiter, einige sind auch körperlich behindert. Warum?
Das stimmt so nicht. Nur einer ist körperlich von Geburt an behindert. Was stimmt, ist, dass einige Figuren darin am Rand der Gesellschaft leben, die meisten sind aber normale Menschen, wie man sie überall in Rumänien trifft: gut ausgebildete Frauen und Männer, die kaum Chancen haben, Karriere zu machen; Intellektuelle, die irgendetwas tun, um ein Auskommen zu finden; junge Leute, die gezwungen sind zu emigrieren; schlichte Menschen, die mehr schlecht als recht in den Städten vor sich hindämmern, und so weiter. „Figuren aus der Welt, in der wir leben“, so heißt es an einer Stelle in meinem neuen Roman, der den Titel Die Kinder des Krieges trägt.

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