5 Fragen an ... Tommy Wieringa und Bettina Bach

5 Fragen an ... Tommy Wieringa und Bettina Bach

Tommy Wieringa, als Sie diesen Roman vor ein paar Jahren geschrieben haben, ahnte man noch nichts von den Flüchtlingsdramen, die sich in den folgenden Jahren ereignen würden. Wie kamen Sie auf das Thema?
Durch gründliches Zeitunglesen. Einem Autor genügen für sein Werk einige wenige, wirklich gute Ideen – so in etwa zehn –, und wenn man nicht aufpasst, hat man so eine Idee überlesen. Der Anfangspunkt von Dies sind die Namen begegnete mir zu Beginn des Jahrhunderts in der Tageszeitung De Volkskrant. In einem kurzen Artikel unten auf der Seite ging es um eine Gruppe von Flüchtlingen aus Sri Lanka. In der Annahme, sie seien in Deutschland, waren sie lange durch die kasachische Steppe geirrt. Einer von ihnen starb unterwegs und sie behielten seine sterblichen Überreste bei sich, bis sie, ausgehungert und verzweifelt, wieder in die bewohnte Welt kamen. Ich wurde von der Parallele zum Exodus der Juden getroffen und von einer Tatsache, die im Alten Testament in einem Nebensatz erwähnt wird: dass sie die Gebeine von Josef durch die Wüste trugen, weil er seinem Volk das Versprechen abgenommen hatte, sein Gerippe bei ihrem Aufbruch ins Gelobte Land nicht zurückzulassen. Dies sind die Namen kann also als Synthese aus der Zeitung und dem Alten Testament betrachtet werden.
Das Flüchtlingsdrama war damals schon in vollem Gang, es hatte nur noch keinen festen Platz im westeuropäischen Bewusstsein. Als der Roman 2012 schließlich beendet war – davor mussten zwei andere geschrieben werden – traf das mit dem Beginn der Flüchtlingskrise zusammen, wie wir sie heute kennen.

Neben den Flüchtlingen ist die Hauptfigur des Romans Pontus Beg, der Polizeichef einer fiktiven osteuropäischen Stadt. Was treibt ihn an? Was verbindet ihn mit den Flüchtlingen?
Mit Pontus Beg beschreibe ich ein Menschenleben, das mit keinem anderen Leben in Berührung steht, höchstens mit dem seiner Haushälterin, die er einmal im Monat beschlafen darf. Ein Verlorener, der sich in seinen immer länger werdenden Meditationen über seine Jugend an ein jiddisches Kinderlied erinnert. Das ist der Ausgangspunkt einer Suche, die ihn dazu bringt zu glauben, dass er jüdisch sein könnte. Und das wiederum verbindet ihn mit der höllischen Wanderung der Flüchtlinge durch die Steppe, in der er den Exodus erkennt. An diesem Punkt treffen sich die beiden Geschichten und fließen dann gemeinsam weiter.

Warum spielt der Roman gerade in Osteuropa?
In den Niederlanden gibt es wenig Weite. Überall trifft man auf Menschen und menschliche Artefakte, eine widerwärtige Allgegenwart, die einen erschüttert und aufständisch macht, wie es Emil Cioran ausdrückt. Dies sind die Namen sollte ein Roman über die Weite und über ein großes Abenteuer werden, eine Odyssee – die Niederlande kamen also nicht in Frage. In der Ukraine hingegen, in den letzten Resten der von Gogol in Taras Bulba besungenen Steppe, fand ich den Raum, den ich brauchte. Auf dem Pferd, mit knirschendem Steppengras unter den Hufen und der Weite des Himmels über dem Kopf. Summend ritt der Kosake Zhenya auf seiner Stute Natascha vor mir her.
In seinem Essay Die Kunst des Romans stellt sich Milan Kundera die Frage, was denn nur aus den Abenteuern geworden sei, diesem ersten großen Thema von Romanen. Man denke hierbei an Don Quijote und Moby Dick. Tatsächlich neigt der moderne Roman manchmal dazu, sich nach innen zu kehren, er ist eher Porträtkunst denn Panorama. Dies sind die Namen hofft, Letzteres zu sein.

Welche Bedeutung hat der Titel?
Es handelt sich um die ersten Worte des Buches Exodus: „Dies sind die Namen der Kinder Israel, die mit Jakob nach Ägypten kamen“. Für ein Volk von Flüchtlingen waren Namen und Abstammungslinien von großer Bedeutung, vor allem, als sie namenlos über die Erde verstreut wurden. Mit einem Namen tritt man aus der anonymen Gruppe heraus, der eigene Name verleiht einem Individualität. In der Bibel bekommen manche Figuren mit ihrem Eintritt in eine neue spirituelle Phase einen neuen Namen. Saul wird Paulus, Sarai wird Sarah, Simon wird Petrus. Ein Name gibt einem einen Platz in der Welt, nur die Gruppe, die Menschenmenge, ist namenlos.
Hier bekommen die Wanderer im Lauf der Geschichte ihre Namen zurück, und zugleich tritt ein anderes Gesetz in Kraft: Jemand mit einem Namen kann für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das Verbrechen, das in der Steppe begangen wurde und die Gruppe zusammenhält, nimmt für den Kommissar allmählich Gestalt an, als die Gruppe in Individuen zerfällt.

Der Roman ist nicht nur in Holland, sondern auch international sehr erfolgreich. Ein englischer Kritiker schrieb, es gehe darin um die zentralen Fragen des menschlichen Lebens. Würden Sie dem zustimmen?
Ich glaube nicht, dass irgendein Autor anfängt, einen Roman zu schreiben, um die „zentralen Fragen des menschlichen Lebens“ zu behandeln. Autoren erkennen eine Geschichte. Dann erst stellt sich heraus, dass sich solche Fragen dahinter verbergen. Deshalb fände ich es ziemlich altklug und vor allem anachronistisch von mir, wenn ich im Nachhinein solche Motive identifizieren wollte. Aber vielleicht darf ich Sie als meine Lektorin auffordern, die Frage selbst zu beantworten?

Wie schön, wenn der Autor der Fragestellerin das letzte Wort lässt, auch wenn ich gern gewusst hätte, ob er sich mit dieser Aussage identifizieren kann. Ich finde, der Kritiker hat etwas Wichtiges auf den Punkt gebracht. Mich hat beim Lesen immer wieder Tommy Wieringas Kunst beeindruckt, die Geschichte dieser besonderen Menschen zugleich als eine allgemeine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte der Flüchtlinge einerseits und andererseits des sesshaften Kommissars, der Ordnung stiften soll in einer zerfallenden Welt. Zwangsläufig beginnt man darüber nachzudenken, was die beiden Seiten verbindet: die Sehnsucht nach einem Ort, wo man hingehört, die Suche nach einer persönlichen Identität und bestimmten Werten, vielleicht sogar nach einer Religion. Was den Roman für mich besonders aufregend macht, ist das, was zwischen den Zeilen steht.

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