5 Fragen an ... Nora Bossong

5 Fragen an ... Nora Bossong

Nora Bossong, »36,9°« ist ein politischer Liebesroman, er erzählt von revolutionären Umbrüchen ebenso wie von Zuneigung, Hingabe und purer Lust. Was reizt Sie an der Kombination von Liebe und Politik?
Mir fällt ein Satz ein, den das Vorbild einer meiner Romanfiguren einmal gesagt hat, nämlich der italienische Kommunist Antonio Gramsci: »Wie oft habe ich mich gefragt, ob eine wirkliche Beziehung zu einer Masse von Menschen mo?glich ist fu?r jemanden, der nie einen Menschen geliebt hat.« Dieser Satz war mir sehr wichtig beim Schreiben. Politik, so wie Gramsci sie noch verstand, bei der es um die Umwälzung der ganzen Gesellschaft ging, ist ein gewaltiges Wagnis. Und ein solches ist auch, nur eben im Privatesten und Intimsten, die große Liebe. Beides hat etwas Überwältigendes, in beidem gehen wir an unsere Grenzen oder wachsen sogar über uns hinaus. Und beide können sie auf das Fatalste schiefgehen: Ein Himmel auf Erden, der totalitär werden kann.

Sie sagten es schon, einer Ihrer Protagonisten ist eine historische Figur: Der 1937 in faschistischer Haft verstorbene Antonio Gramsci. Was fasziniert Sie an ihm?
Gramsci war eine Hoffnungsfigur, an der entlang man noch weit über seinen Tod hinaus einen anderen, menschlichen Kommunismus für Europa erträumte. Aber er war nicht nur ein außergewöhnlicher Denker und zäher Politiker, sondern auch ein sehnsüchtiger und verletzlicher Mensch. Kleinwüchsig und verwachsen, traf er mit 31 Jahren seine große Liebe Julia Schucht. Sie riss ihn aus seinem strengen intellektuellen Korsett und begleitete ihn auf dem Grenzgang zwischen politischer Pflicht und persönlichem Glück. Sie war sein Lebensmittelpunkt, selbst dann noch, als sie während seiner langen Haft zunehmend zu einem Phantom für ihn wurde.

Ebenso wichtig wie die Romanfigur Gramsci ist ihr Gegenüber in der Gegenwart – der großartig klägliche Gramsci-Forscher Anton Stöver. Wie sind Sie auf diese durchaus unvergessliche Figur gekommen?
Es begann schlicht: Ich verzweifelte gerade an meiner Magisterarbeit, die Uni erschien mir als Ort farblosen Stils, einbetonierten Denkens und stumpfer Drittmittelakquise – und so ließ ich lieber Anton Stöver an meiner Stelle in einer wissenschaftlichen Karriere scheitern. Mit der Zeit wuchs er zu einer klaren Antifigur von Gramsci heran: Ein Mann, der an nichts mehr glaubt, sondern nur noch um sich selbst kreist, der seine Liebespartner zerstören will, um sich selbst zu retten.

Sie kommentieren das Zeitgeschehen regelmäßig durch Artikel, Essays und auch Ihre Romane. Was wünschen Sie der politischen Diskussion in Deutschland?
Mehr Mut, mehr Weitsicht, mehr Anarchie im Denken! Die Welt sehen, anstatt auf den eigenen Bauchnabel zu starren. »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen«, hat Helmut Schmidt einmal gesagt. Aber wer keine Visionen mehr hat, der sollte sich fragen, ob er überhaupt noch am Leben ist.

Und jetzt? Wie fühlt man sich nach einem solchen Buch?
Einen Roman zu beenden ist wie eine Beziehung zu beenden: Man lebt so eng mit den Figuren zusammen, liest ihre Briefe, kennt ihre Tagesabläufe, ihre Sorgen und Hoffnungen und Neurosen. Ich vermisse Gramscis Kraft und seinen störrischen Humor, Antons hoffnungslose Suche nach Rausch und Nähe. Aber es ist auch erleichternd, sie endlich den Lesern zu überlassen.

Bücher

Newsletter
Newsletter