5 Fragen an ... Ljudmila Ulitzkaja

5 Fragen an ... Ljudmila Ulitzkaja

Frau Ulitzkaja, wie entstand die Idee zu Ihrem Roman „Jakobsleiter”?
2011 fand ich in einer Mappe, die seit dem Tod meiner Großmutter bei mir lag, Briefe von ihr und meinem Großvater. Ich habe die Briefe jahrelang nicht gelesen, weil ich Angst hatte, unangenehme Dinge über meine Verwandten zu erfahren. Das war eine Angst, die den Menschen in der Sowjetunion zutiefst vertraut war. Ich las die Briefe erst, als hundert Jahre seit dem ersten Brief vergangen waren. Die 500 Briefe zu lesen hatte etwas Unheimliches – so als fielen plötzlich Skelette aus dem Schrank. Mir war klar, dass meine Kinder diese Briefe nach meinem Tod in den Müll werfen würden, und es stieg ein Angstgefühl in mir auf, diesmal war es die Angst vor dem Vergessen, an dem unser Land seit langem leidet. Ich hatte zuvor nie daran gedacht, einen Roman auf der Basis meiner Familiengeschichte zu schreiben, aber die Lektüre dieser Briefe hat mich einfach dazu gezwungen. Die Erinnerungsarbeit machte mir erneut bewusst, dass sich die Menschheitsgeschichte aus einer Ansammlung kleiner privater Familiengeschichten zusammensetzt, die viel wahrhaftiger sind, als unsere Geschichtslehrbücher es sein können. Die »große Geschichte« wird von Zeit zu Zeit umgeschrieben und korrigiert, die Briefe unserer Großeltern hingegen unterliegen keinerlei Zensur, in ihnen steckt die eigentliche Wahrheit.

War es für Sie schwierig, über die eigene Familiengeschichte zu schreiben?
Ja, und das nicht nur aus emotionalen Gründen. Ich hatte zwar die vielen Briefe, kannte die KGB-Akte meines Großvaters und eine Unmenge Literatur über diese Zeit, aber die Biographien meiner Eltern und Großeltern blieben unvollständig. Mir fehlten viele Details, die Dokumente waren verschwunden, die Zeitzeugen lebten nicht mehr, also musste ich mir vieles selbst ausdenken. Darum änderte ich alle Namen, und der größte Teil der Gegenwartsebene des Romans ist ohnehin weit entfernt von der Realität. Wobei meine eigene Theatererfahrung mir sehr dabei geholfen hat, Jakows Enkelin Nora und ihre Familie zu erfinden. Es war eine schwierige, zugleich aber auch spannende Arbeit. Erfahrungen hatte ich mit einer solchen Struktur bereits bei meinem Roman „Daniel Stein” gesammelt. Auch hier sind Originaldokumente kombiniert mit erfundenen Details, die Namen wurden geändert und reale Personen durch Romanfiguren ersetzt. Mit den Briefen meiner Großeltern bin ich ähnlich verfahren. Ein Teil ist unverändert in den Roman eingegangen, andere musste ich ein wenig »bearbeiten«, ein paar musste ich erfinden. Ich habe als Autorin die Freiheit, das Maß an Wahrheit und Dichtung selbst zu bestimmen, denn schließlich schreibe ich kein Sachbuch, sondern Literatur.

Dennoch, es gibt so viele Übereinstimmungen zwischen Ihrer eigenen Familiengeschichte und der Geschichte der Familie Ossetzki, dass man gewillt ist, die „Jakobsleiter” einen autobiographischen Roman zu nennen.
Was ist der eigentliche Hintergrund Ihrer Frage – inwieweit alles der Wahrheit entspricht, was ich geschrieben habe? Soweit Sie es glauben, soweit ist es auch wahr. Wenn Sie aber wissen wollen, ob ich tatsächlich eine Liebesgeschichte mit einem Regisseur hatte, dann kann ich sagen: Nein, die gab es nicht. Ob ich viele meiner eigenen Gedanken und Erkenntnisse auf die Romanheldin übertragen habe? Ja, viele. Ich habe einen Roman geschrieben und überlasse es dem Leser, sich vorzustellen, was ich mir ausgedacht habe, was mir meine Nachbarin erzählt hat und was aus meiner eigenen Biographie stammt.

Der Roman trägt den Titel „Jakobsleiter”. Im Russischen lässt sich eine direktere Verbindung zum Namen Ihres Großvaters herstellen, als dies im Deutschen gelingt. Welche Assoziationen verbinden Sie mit dem biblischen Bild der Jakobsleiter?
Dieses Bild der Leiter ist von großer Bedeutung. Es ist eine Leiter der Erkenntnis, der Erweiterung des Horizonts, ob wir das wollen oder nicht. Wir alle stehen auf dieser riesigen Leiter, hinter uns stehen unsere Vorfahren, vor uns unsere Nachkommen. Der Sinn dieser Leiter besteht darin, dass wir sie hinaufsteigen. Sie führt uns irgendwo nach oben. Und ohne zu begreifen, was mit uns geschieht, ohne das Wissen und die Erfahrungen unserer Vorfahren, können wir nicht vorankommen. Wer die Erfahrungen seiner Eltern und Großeltern verinnerlicht hat, der kommt schneller voran. Wohin diese Leiter am Ende führt, darauf weiß ich keine Antwort. Aber die Bewegung an sich ist verlockend und schön.

Hat die Sowjetzeit die Menschen verbogen, verunstaltet? Was geht davon auf die nächsten Generationen über?
Wichtig ist, dass wir uns dieser Verbiegungen bewusst sind. Wenigstens zum Teil. Jede Gesellschaft hinterlässt Spuren bei den Menschen. Es ist ein ewiger Kampf der herrschenden Macht gegen den Einzelnen. Immer und überall. Der Staat will, dass seine Bürger sich ihm unterordnen, der Mensch aber will frei sein. Besonders gewaltsame Regime verlangen von ihren Bürgern die totale Konformität. Wir alle – unsere Großväter, wir, unsere Enkel – sind Teil dieses Kampfes. Die Sowjetmacht hat ihr Volk in Angst gehalten, jetzt ist die Angst scheinbar geringer, aber es stellt sich heraus, dass die Gier an ihre Stelle treten kann. Wir werden sehen, was aus unseren Kindern wird, das ist spannend. Es wäre schön, wenn sie besser würden als wir.

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