5 Fragen an ... Joachim Radkau

5 Fragen an ... Joachim Radkau

Joachim Radkau, warum soll es interessant sein, wie die Menschen sich früher ihre Zukunft vorgestellt haben?
Um die Menschen früherer Zeiten zu verstehen, darf man nicht nur - wie es die Historiker bislang am liebsten taten - in Ursprüngen stöbern, sondern muss mindestens so sehr deren Zukunftserwartungen kennen. Diese können sich von dem tatsächlichen Fortgang der Geschichte radikal unterscheiden. Daher wird die Zukunftsgeschichte über weite Strecken zu einer Geschichte der Überraschungen und der Überrumpelungseffekte; nicht zuletzt darin liegt ihr spezieller Reiz. Die deutsche Geschichte seit 1945 wird bislang von vielen als zwar löblich, doch etwas langweilig und strukturlos empfunden; über die Zukunftserwartungen bekommt sie mit einem Schlage ein höchst dramatisches Zickzack!
Aber auch aus aktuellen Gründen ist die Zukunftsgeschichte wichtig. Uns wird drastisch vor Augen geführt, dass die Zukunft stets viel Unbekanntes enthält. Daher sollte man Propheten, die vorgeben, die Zukunft genau zu kennen, keinen Glauben schenken, sich vielmehr unterschiedliche Zukunftsszenarien vor Augen führen. Dazu gehört ein scharfer Blick auf die Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit der Gegenwart mit ihren unterschiedlichen Potentialen. Zugleich wird man gesprächsbereit gegenüber Andersdenkenden. Zukunftsgeschichte, richtig verstanden, wirkt jener Polarisierung der Positionen entgegen, die seit geraumer Zeit die politische Diskussion lähmt, ob es um EU und Nation, Flüchtlinge oder Klimawandel geht.

Wann waren die Deutschen besonders optimistisch, wann besonders pessimistisch?
Am Anfang des Buches steht ein Schaubild des Allensbach-Instituts für Meinungsforschung über Hoffnungen und Hoffnungseinbrüche der Bundesdeutschen von 1949 bis 2016: Es präsentiert ein permanentes Zickzack zwischen Hoffnungen und Sorgen. Die letzteren sind in ihren Ursachen markanter: Koreakrieg, Mauerbau, die beiden Ölkrisen, die Flüchtlingswellen, die Terroranschläge. Aber Vorsicht mit derart pauschalen Stimmungsbildern. Bei der Geschichte der Zukunftserwartungen gibt es unendlich viel zu entdecken; da lohnt sich detektivische Detailforschung. Immer wieder kommt heraus, dass viele Bundesdeutsche auch bei einem allgemeinen Pessimismus in ihren persönlichen Erwartungen ganz zuversichtlich waren. Darin liegt etwas Tröstliches der bundesdeutschen Zukunftsgeschichte: Selbst bei tiefem Pessimismus waren gewaltige Aufbauleistungen möglich!

Haben sich die Möglichkeiten, die Zukunft zu prognostizieren, verbessert?
Die professionelle Prognostik, die sich vor allem in den 1960er Jahren als Spezialwissenschaft zu etablieren suchte, hat sich nicht bewährt. Aussichtsreicher sind Prognosen, die einem unruhigen Herumschauen, einem "vagabundierenden Blick" entspringen. Die wachsende Bedeutung von Umweltproblemen, bei denen Naturgesetze hineinspielen, ist immerhin ein Argument dafür, dass sich zumindest in dieser Hinsicht - nicht bei der Prognose künftiger US-Präsidenten - die Chancen der Prognostik verbessert haben. Aber selbst die künftige Klimaentwicklung lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. Historische Erfahrungen mit der Prognostik sprechen für einen Politikstil, der mehrere Optionen im Auge behält und im Blick darauf auf der "sicheren Seite" operiert.

Mit was hat nach 1945 niemand gerechnet – und warum?
Eine ganz große Überraschung war für viele Nachkriegsdeutsche das "Wirtschaftswunder". Aus der Besserwisserei der Retrospektive war es gar kein Wunder; aber selbst der bestinformierte Karl Schiller veranschlagte um 1947 als Hamburger Wirtschaftssenator die Dauer des Wiederaufbaus auf 80 Jahre! Auch die lange Friedenszeit nach 1945, die später vielen so selbstverständlich vorkam, war eine der allerschönsten Überraschungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und dann die Wiedervereinigung von 1990, die wohl nicht zuletzt dem kolossalen Überraschungseffekt zu verdanken ist: Auf diese Weise wurde der Sicherheitsapparat der DDR überrumpelt.

Und jetzt noch eine persönliche Frage: Sind Sie eher Optimist oder Pessimist?
Darauf kann ich nur antworten: Ich bin kein Optimist, ich bin kein Pessimist, ich bin ein Possibilist. Wie ich auf S. 433 geschrieben habe: "Die Zukunftsgeschichte gewinnt ihren Wert, geistig wie praktisch, als Einübung in Possibilismus."

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