5 Fragen an ... Isolde Charim

5 Fragen an ... Isolde Charim

Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert heißt Ihr neues Buch. Können Sie ganz kurz erklären, was genau Pluralisierung hier meint?
Pluralisierung meint die völlig neue Zusammensetzung der Gesellschaft – eine Veränderung, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren stattgefunden hat. Es ist wichtig festzuhalten, dass Pluralisierung kein politisches Projekt, sondern ein Faktum ist. Ein Faktum, das aus einer Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes resultiert: aus der Bewegung der Migration.

Sie vertreten, sehr kurz gefasst, die These, dass wir, durchaus entgegen der weit verbreiteten Ansicht, heute weniger Ich sind beziehungsweise sein müssen, um mit den veränderten gesellschaftlichen Realitäten umzugehen. Warum?
Österreicher-sein ist heute etwas ganz Anderes als noch vor ein paar Jahren. Das neue Nebeneinander unterschiedlicher Religionen und Kulturen bewirkt, dass sich unser aller Identitäten – so unterschiedlich sie auch sein mögen – auf dieselbe Art verändern: Sie relativieren sich aneinander. Sie grenzen sich gegenseitig ein. Wir sind heute weniger selbstverständlich Ich. Wir leben – alle – im identitären Prekariat. In diesem Sinne sind wir Weniger-Ichs.

Sie zeigen, dass sich der Bezug zu unserer eigenen Identität stark verändert hat, und entwickeln dafür eine ganz neue These, Sie definieren dafür, wenn man so will, historisch drei Arten von Individualismus. Können Sie uns einen kleinen Einblick in Ihre Arbeitsweise gewähren? Wie haben Sie diese These entwickelt?
Erinnern Sie sich noch an den „Roman in Fortsetzung“, den es früher in allen großen Zeitungen gab? Am Anfang stand immer: Was bisher geschah … Ich habe dieses Genre für mich adaptiert. Meine Zeitungskolumnen sind so etwas wie eine „Theorie in Fortsetzung“ – das mögen die Leser nicht wissen, aber in meinem Kopf gibt es immer dieses Weiterdenken, Weiterschreiben eines Themas. Ein großartiges Genre, denn es zwingt einen dazu, immer contemporary zu sein, also genau hinzuschauen auf die Gegenwart.

Sehr anschaulich und verständlich wird Ihre These, weil Sie sie auf verschiedenen Schauplätzen anwenden: Religion, Kultur, Politik. Wenn Sie ein Beispiel, eine Art Kondensat, herausgreifen müssten, wo wird für Sie die Veränderung am deutlichsten sichtbar?
Eine Eigenart der Pluralisierung ist: alle pluralisierten Schauplätze verdoppeln sich. Alle Bereiche, die sie verändert, spalten sich – in den Bereich, wo die Effekte der Pluralisierung wirken, und in den Bereich, wo eben diese Effekte abgewehrt werden. Etwa in der Politik. Wir beobachten im Bereich der Partizipation, also der Teilhabe am politischen Geschehen, das vehemente Bedürfnis als Einzelner vorzukommen, gehört zu werden, sich angesprochen zu fühlen. Ein Bedürfnis des pluralisierten Individuums. Und auf der anderen Seite, der Seite der Abwehr, haben wir den Populismus – der wesentlich ein Antipluralismus ist.

Die Forderung nach Integration, die vor allem die Politik nicht müde wird zu wiederholen, läuft nach Ihrer Analyse glatt ins Leere. Warum?
Ich glaube, man muss sich eher fragen: Worum geht es, wenn man nach Integration ruft? Welche Vorstellung hat man, wenn man von Integration spricht? Es ist die Vorstellung, durch Integration, durch einen gewissen Grad an Anpassung könne die Gesellschaft so bleiben wie sie bisher war. Das ist die trügerische Gewissheit, die die Rede von der „Integration“ garantieren soll. Pluralisierung aber ist ein unhintergehbares Faktum. Das lässt sich auch nicht durch noch so viel Integration rückgängig machen.

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