5 Fragen an ... David Grossman

5 Fragen an ... David Grossman

Lieber David Grossman, wie ist der Stoff für diesen Roman zu Ihnen gekommen? Was Nina wusste beruht ja auf einer realen Lebensgeschichte …
Die Geschichte hat Eva Panic-Nahir mir selbst erzählt – langsam, nach und nach, während der zwanzig Jahre, in denen wir eng befreundet waren. Schon als sie mit der eigenen Hartnäckigkeit, stürmisch und emotional in mein Leben platzte, wusste ich, sie hat eine Lebensgeschichte zu erzählen und die Geschichte einer Liebe, wie ich sie bisher nicht gehört habe. Trotzdem sind zwanzig Jahre vergangen, bis ich das Gefühl hatte, dass ich darüber schreiben kann.
„Liebe Eva“, sagte ich ihr jedesmal, wenn sie mich fragte, ob ich schon angefangen hätte zu schreiben, „ich werde die Geschichte nicht genauso schreiben, wie du sie mir erzählt hast. Ich dokumentiere ja nicht, ich bin ein Schriftsteller, der Fiktion schreibt. Ich muss das, was existiert, selbst erfinden. Ich werde mir deine Geschichte, dich und Nina und Gili, deine Enkelin, vorstellen. Und dann werde ich die Geschichte von einem Punkt aus schreiben, an dem du, die Heldin der Geschichte, nicht sein kannst.“
Das Buch erschien erst, nachdem Eva im Alter von siebenundneunzig Jahren gestorben war. Ich hoffe, ich bin ihr, ihrer Komplexität und den Widersprüchen in ihrer Person treu geblieben.

Es geht um drei Frauen, drei Generationen: Vera, die Großmutter, Nina, die Tochter, und Gili, die Enkelin. Wie wichtig ist die Idee der Familie für Ihren Roman?
Fast alle meine Bücher handeln von Familien und der Wucht ihrer Geschichten. Ich denke, die größten Dramen der Menschheit finden in der Familie statt. In diesem Buch ist die Familie der Ort, an dem wir die ursprünglichsten und stärksten Gefühle von drei Frauen ganz nah erleben, von drei Generationen, die kaum anders können als einander zu verletzen, doch die Beziehung zwischen ihnen ist auch der Ort, an dem der Prozess der Heilung und der Genesung beginnen wird.

Vera wurde in den Fünfzigerjahren auf die Gefängnisinsel Goli Otok verbannt. Sie ist daran nicht zerbrochen. Wie war das möglich?
Die Insel Goli Otok in Kroatien ist einer der entsetzlichsten Orte auf der Welt. Sie ist hässlich, wie nur Gewalt hässlich sein kann. Nur sehr wenige der Menschen, die dort als Gefangene oder als Aufseher waren, haben ihre Menschlichkeit bewahrt. Eva Pani?-Nahir – die Vera meines Romans – ist bei den Verhören und bei der Zwangsarbeit nicht zerbrochen. Sie hat niemanden denunziert und niemanden ausgeliefert. Mehr noch, als sie mit ihrem Körper, mit dem Schatten, den ihr kleiner Körper warf, eine kleine Pflanze beschützte, die einzige, die auf dieser nackten Insel wuchs, spürte sie in sich einen Quell der Güte, des Beschützens und sogar der Mütterlichkeit, einer Mütterlichkeit, die sie ihrer Tochter nicht entgegengebracht hat. Das große Wunder ihrer Lebensgeschichte und der Geschichte des Lebens ihrer Tochter sind für mich nicht die Jahre, die Eva in dem „Umerziehungslager“ Goli Otok verbrachte, sondern die Jahre danach: ihre Fähigkeit, ins Leben zurückzukehren, mit Kraft und Leidenschaft am Leben festzuhalten und weiterhin an den Menschen zu glauben.

Viele Jahre später reisen die drei Frauen nach Goli Otok, und zum ersten Mal erzählt Vera ihrer Tochter, wie es dazu kam, dass sie Nina als Kind weggegeben hat und selbst in die Verbannung ging. Gibt es im Roman etwas wie eine Versöhnung?
Ich glaube sehr ans Geschichtenerzählen, daran, dass die Kraft der Geschichte den Menschen, der sie erzählt, verändert. Das hängt natürlich auch von dem ab, der sie hört. Der aufmerksame, aktive Zuhörer kann die lebendige, wahre Geschichte aus sich selbst gebären, eine Geschichte, die eben nicht dem Aufsagen eines Textes gleicht, den wir schon dutzende Male gehört haben. Und dann kann es passieren, dass etwas, was hart und erstarrt war, sich aufzuweichen und flexibel zu werden beginnt, und plötzlich spüren wir, dass wir nicht das hilflose Opfer einer Geschichte bleiben müssen, in der wir viele Jahre lang gefangen waren. Einer Geschichte, die auf eine Realität zutraf, in der wir längst nicht mehr leben. Ich habe den Eindruck, genau das passiert in meiner Geschichte, als Vera ihrer Tochter Nina die Geschichte erzählt, die für sie beide Gefängnis und Strafkolonie gewesen ist.

Wie war es für Sie als Mann, aus der Perspektive einer Frau zu schreiben, genauer, aus der Perspektive von drei Frauen?
Jede der drei Frauen in der Geschichte hat nicht nur ihre eigene äußere und innere Welt, sondern auch ihre eigene Sprache und ihren eigenen Ton. Aber ich glaube oder hoffe, dass es in jedem von uns unendlich viele Möglichkeiten gibt, in der Welt zu leben. In jedem Mann gibt es eine Frau oder mehrere Frauen, in jeder Frau gibt es einen Mann oder mehrere Männer ... Leider verengen wir die Fülle dieser vielen Möglichkeiten aus Angst oder Scham, aus der Notwendigkeit heraus, als „ein“ Mensch effektiv zu handeln. Für mich ist es eines der wunderbaren Dinge des Schreibens, mich nicht länger gegen diese Fülle zu wehren. Mich nicht vor ihr zu fürchten. Mich den verschiedenen Figuren, die uns bevölkern, hinzugeben ... mich mit meinem ganzen Sein ihnen und ihrer Geschichte hinzugeben.

Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer

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