5 Fragen an ... Benno Gammerl

5 Fragen an ... Benno Gammerl

Lieber Herr Gammerl, anders fühlen ist das erste allgemeine Sachbuch, das sich eingehend mit dem Leben männerbegehrender Männer und frauenbegehrender Frauen in Deutschland beschäftigt. Wie kommt es, dass das Thema von Historikerinnen und Historikern so lange vernachlässigt wurde?
Dass das Thema nun endlich die Aufmerksamkeit erfährt, die es verdient, hat vor allem mit der beharrlichen und hervorragenden Arbeit zu tun, die schwule und lesbische Historikerinnen und Historiker jahrelang geleistet haben, meist ohne dafür angemessen entlohnt zu werden. Die universitäre Geschichtswissenschaft hielt den Beitrag von LSBTI* Personen zur Geschichte der Bundesrepublik lange Zeit entweder für unbedeutend oder in ihrer konservativen Haltung für ‚bäh!‘ Das hat sich erst mit der offiziellen Anerkennung des Unrechts, das Lesben und Schwulen auch nach 1945 noch zugefügt wurde, allmählich geändert. Diese Entwicklungen machten auch ein Buch wie anders fühlen möglich.

Und wie sind Sie zu dem Thema gekommen – oder das Thema zu Ihnen?
Als schwuler Historiker wollte ich schon lange etwas zur Homosexualitätengeschichte schreiben. Nachdem ich eine Promotion zu einem weniger ‚gewagten‘ Thema vorgelegt hatte, war die Zeit aus meiner Sicht reif. Dann ergab sich die Chance, das Projekt mit einem emotionshistorischen Ansatz zu verknüpfen. Das leuchtete mir unmittelbar ein: Wie fühlten frauenliebende Frauen und männerliebende Männer und wie haben sich diese Gefühle seit den 1950er-Jahren verändert? So haben das Thema und ich zueinander gefunden.

Stigmatisierung, Emanzipation, Normalisierung – das sind die drei wichtigsten Begriffe und Konzepte in Ihrem Buch. Was hat es mit ihnen auf sich?
Stigmatisierung heißt: Wer schwul ist, fliegt raus. Emanzipation passiert, wenn jemand sagt: Ich bin lesbisch. Und da müsst Ihr jetzt damit zurechtkommen! Und Normalisierung bedeutet, dass gleichgeschlechtlich begehrende Figuren in immer mehr Vorabendserien auftauchen. Wichtig ist mir, dass sich diese drei Phänomene nicht säuberlich auf bestimmte Phasen verteilen lassen, nach dem Motto: In den Nachkriegsdekaden waren Homosexuelle stigmatisiert; in den 1970er-Jahren wagten sie den emanzipatorischen Aufbruch; und seit den 1980er-Jahren hat sich peu à peu Normalität eingestellt. Zwar wurde das Schwul- und Lesbischsein normaler, aber es gibt nach wie vor auch Stigmatisierung; und deswegen hat sich der emanzipatorische Impetus alles andere als erübrigt. Genau diese Gleichzeitigkeit von Stigma, Befreiung und Normalität macht die Zeitgeschichte der Homosexualitäten aus.

Der Untertitel des Buchs sagt es bereits: Es handelt sich um eine „Emotionsgeschichte“. Warum ist ein emotionshistorischer Ansatz gerade bei diesem Thema so zentral?
Gefühlshistorikerinnen fragen, wie sich emotionale Muster und Praktiken im Lauf der Zeit verändern. War früher mehr Angst oder mehr Lametta? Im Ernst: Noch wichtiger als solche Konjunkturen bestimmter Gefühle ist für mich ihr qualitativer Wandel: Hatten die Menschen früher vor anderen Dingen Angst? Äußerte sich diese Angst anders? Und wurde sie auf andere Art empfunden als heute? In diesem Sinn haben Gefühle eine Geschichte. Die queere Geschichte macht das klar: Vor 60 Jahren mussten Männer noch befürchten, ins Gefängnis zu kommen, wenn sie Sex mit Männern hatten. Heute erzählt manch einer auf Arbeit voller Begeisterung von seinem schwulen Kreuzfahrturlaub – also vor Corona. Das Gefühlsleben hat sich fundamental verändert. Umgekehrt können Gefühle auch Geschichte machen. Partnerschaftliche Liebe und die Fürsorge für Kinder in Regenbogenfamilien: das sind Gefühle, die immer mehr Menschen mit queerem Leben verbinden. Und weil dem so ist, konnte 2017 die Ehe für alle endlich politisch durchgesetzt werden.

Ihr Buch beschäftigt sich mit schwulem und lesbischem Leben in Deutschland. Gleichzeitig gelingt es Ihnen jedoch auch, nicht nur diesen Teilbereich in den Blick zu bekommen, sondern eine neue Perspektive auf die deutsche Zeitgeschichte als Ganzes zu entwickeln. Wie sieht die aus?
Zwei Dinge: Erstens werden die 1980er-Jahre als Periode entscheidender Veränderungen nicht ernst genug genommen. Das liegt an dem kohligen Gefühl der Stagnation, an das sich manche noch erinnern werden, und an der Behäbigkeit des westdeutschen Geschichtsbildes. Verändert, so glauben viele nach wie vor, hätten sich mit der Wende nur die Dinge im Osten. Aber auch die alte Bundesrepublik durchlief einen fundamentalen Transformationsprozess. Die Normalisierung der sexuellen Vielfalt ist da nur eine von mehreren Dynamiken. Zweitens unterscheidet sich die Geschichte von Schwulen und Lesben zwar von der anderer Gruppen, die um Gleichberechtigung ringen – Frauen, Menschen ohne Wohnung, Migrierte, alleinerziehende Eltern, Behinderte, Afro-Deutsche, Arbeitslose, Psychiatriepatientinnen und -patienten … –, aber in manchen Punkten ähneln sich die Erfahrungen. Die Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung ist auch für die Geschichte anderer gesellschaftlicher Gruppen von Relevanz. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann das: Dass das Buch mit beiträgt zur dringend nötigen Diversifizierung der bundesdeutschen Zeitgeschichte.

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