5 Fragen an ... Aris Fioretos

5 Fragen an ... Aris Fioretos

Wegen eines Herzleidens darf Nelly B. nicht mehr fliegen. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt. Da lernt sie die 14 Jahre jüngere Irma kennen und verliebt sich leidenschaftlich in sie. Lieber Aris, erwächst diese Liebe aus der Verzweiflung?
Eher aus einer Verzweiflung hinter der Verzweiflung. Nelly hat immer schon geahnt, dass sie zu den „Veilchenfrauen“, wie es an einer Stelle heißt, gehört – also zu denen, die sich zu anderen Frauen hingezogen fühlen. Aber um sich ihrer großen Leidenschaft, dem Fliegen, widmen zu können, stellt sie andere Bedürfnisse hintenan. Sie heiratet sogar einen Kollegen, den französischen Ingenieur Paul Boulard. Als der Roman im Spätsommer 1923 mit der Diagnose von Nellys „verstauchtem Herzen“ einsetzt, fängt ihr Leben auf der Erde an. Nach dem Fall vom Himmel beginnt das Aufsteigen des Begehrens.

In einer Schlussbemerkung zum Roman verrätst du, dass es eine gewisse historische Anknüpfung an Melli Beese gibt, die als erste Frau in Deutschland den Pilotenschein erwarb und später zusammen mit ihrem Mann eine Flugschule leitete. Über das Jahr 1925, Melli Beeses letztes Lebensjahr, weiß man wenig. War das die Gelegenheit für den Roman?
Ich versuche es zu vermeiden, als Trittbrettfahrer der Schicksale historischer Menschen durch die Literatur zu sausen. Es fühlt sich fast unethisch an. Kostümfilme auf Papier dürften das Letzte sein, was unsere Bibliotheken brauchen. Worin liegt die Pointe, wenn ein Roman versucht, das, was wir bereits über eine Gestalt oder Epoche wissen, zu bestätigen? Mir geht es darum, mit Hilfe fiktiver Prosa die Triebkräfte des Menschen zu untersuchen. Dazu kann ein einzelnes Haar reichen. Es enthält ja genügend DNA, um eine neue Gestalt zu erschaffen – eine mögliche Person. Mary Shelley sprach einst von der „schmutzigen Werkstatt der Schöpfung“. So betrachte ich die Romankunst. Sie ist ein Erkenntnislabor.

Das Berlin der zwanziger Jahre wird im Roman mit großer Anschaulichkeit evoziert. Was hat dich an dieser Zeit und diesem Schauplatz vor allem interessiert?
Über die beiden letzten Jahren im Leben Melli Beeses – von der Scheidung 1923 bis zum Selbstmord 1925 – ist kaum etwas nachweisbar. Diese unbekannte Zeit war alles, was ich brauchte; sie ließ mich frei atmen.
Ich glaube, Autoren können – vereinfacht ausgedrückt – in zwei Gruppen eingeteilt werden. Auf der einen Seite gibt es solche, die um die Schmerzpunkte im eigenen Leben kreisen. Der norwegische Autor, der tausende von Seiten dem symbolischen Vatermord, der realen Kinderbetreuung und der nicht weniger faktischen Ehetrennung gewidmet hat, wäre hierfür ein gutes Beispiel. Auf der anderen Seite gibt es Autoren, die sich eher zum Andersartigen hingezogen fühlen. Ich gehöre vermutlich der letzteren Gruppe an. Keine ist besser als die andere. Mich interessiert das Wörtchen „Ich“ einfach mehr im Mund von Fremden.
Mein letzter Roman, Mary, handelte von Schwangerschaft. Zwar habe ich eine Tochter, aber ich habe sie ja nicht selber geboren. In Nelly B.s Herz wollte ich die Liebe zwischen Frauen schildern.
Literatur, die nur aus dem, was sie weiß, gefühlt oder selber erlebt hat oder erleben könnte – kurz: dem Eigenen – besteht, macht sich freiwillig arm. Ich kann nicht sagen, warum ich mich als Autor den Erlebnissen anderer zugeneigt fühle. Aber ich habe gemerkt, dass sich das Schreiben dadurch in eine Art Erkundung verwandelt. Im besten Falle färbt der Reiz des Neuen auf den Text ab.

Man merkt, du hast die historischen Details – bis hin zur Zigarettenmarke Salem Aleikum – sehr genau recherchiert. Wie bist du dabei vorgegangen?
Auch wenn ein Roman sich alles erlauben kann, was in seinem Zusammenhang sinnvoll ist – Fiktion hat ja weniger mit Wahrheit zu tun, als sie in sich stimmig sein sollte –, lese ich persönlich nicht gern von Personen, die etwa in vordigitaler Zeit mit Handys hantieren. Abweichungen von den realen Verhältnissen sollten motiviert sein, sonst verliert der Autor mein Vertrauen.
Nelly B.s Herz schließt an zwei unabhängige frühere Romane von mir an, die auch in den zwanziger Jahren spielen. Mich reizt diese Zeit unter anderem, weil in ihr ein neues Menschenbild entsteht. In der Tat sprach man damals vom „neuen Menschen“. Die Errungenschaften der damaligen Medizin waren hier prägend. Gerade habe ich dazu in Schweden ein Monster von einem Buch mit dem Titel Atlas veröffentlicht. Auf fast 500 Seiten und anhand von 600 Bildern versucht es vieles von dem, was in den drei Romanen nur zwischen den Zeilen steht, zu beleuchten. Anhand einer Reihe von „Fallstudien“ (vulgo: Kurzgeschichten) geht es um Eros, Gänsehaut, Schwindel und vieles mehr. Darunter eben auch das Rauchen. Hugo Zietz‘ „orientalische Tabak- und Zigarettenfabrik“ Yenidze in Dresden, wo Salem Aleikum produziert wurde, spielt hier eine Rolle, genauso wie Szlama Rochmanns Tabakfirma in der Greifswalder Straße in Berlin, wo man die Marke Moslem herstellte. Der tolle Rauchring auf der Schachtel, der um die eine Spitze des Ms hängt, ist nur ein flüchtiges Detail. Aber in meinen Büchern bekommen Details rasch eine zusätzliche Bedeutung. Was wäre die Literatur ohne die Liebe zu Einzelheiten, Winzigkeiten, das beinahe Übersehene?

Nelly B.s Herz besteht aus 100 Kurzkapiteln, aber es liest sich wie ein durchgeschriebener Roman. Wie gehst du bei der Arbeit vor? Schreibst du die Kapitel so hintereinander, wie wir sie lesen? Oder arbeitest du thematische Komplexe heraus (z.B. die Pension Colding in Steglitz, wo Nelly zusammen mit anderen Figuren wohnt) und bestimmst die Reihenfolge der Szenen später?
Ich mache mir – Hand aufs Herz – nicht allzu viele Gedanken über den Vorgang. Meistens wird erst allmählich klar, wie die geheime Architektur eines Buchs aussieht. Gut möglich, dass meine Romane wie Eiszapfen entstehen. Ich schreibe nicht nur, ich schreibe vor allem immer wieder um. So gelange ich jedes Mal ein klein wenig weiter in den Text hinein. Oder um im Bild zu bleiben: Mit jeder neuen Schicht wird der Eiszapfen länger. Die Gefahr dabei ist, dass der Anfang zu umfangreich wird, das Ende zu dünn und spröde. Aber wenn diese Faute-de-mieux -Methode klappt, lassen sich die einzelnen Schichten nicht mehr voneinander trennen. Der Text wird durchsichtig und dennoch fest. Persönlich mag ich Romane, die zum Ende hin stetig pointierter werden, in denen die Gedanken, Triebe und Gefühle enggeführt werden.

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