5 Fragen an ... Annika Reich

5 Fragen an ... Annika Reich

Liebe Annika Reich, ein geheimnisvolles Anwesen am See, das allein von Frauen bevölkert wird, das ist die ungewöhnliche Kulisse deines neuen Romans. Wie wichtig ist der Ort für die Entwicklung der Figuren?
Die Arbeit an einem Roman beginnt bei mir in dem Moment, in dem eine Frage so drängend wird, dass ich ihr schreibend nachgehen muss. Anfangs habe ich meist nur diese Frage, aber keine Idee, was für eine Geschichte ich erzählen werde und auch keine Figuren oder Schauplätze im Sinn. Ich schreibe also im Blindflug los, die Frage als Leuchtfeuer am Horizont. Diesmal war es anders, diesmal hatte ich sofort das Anwesen am See im Kopf und wusste genau, wie die fünf Häuser aussehen, das Bootshaus und der Steg. Ich wusste, wie schön der Garten bei den Festen der Großmutter beleuchtet ist und wie unheimlich er in den Nächten wirkt, in denen die Ich-Erzählerin sich hinter den großen Linden versteckt. Und natürlich ist das kein Zufall. Denn so sehr es in diesem Roman um die persönlichen Beziehungen zwischen Frauen einer Familie geht, so sehr geht es um das System, in das sie hinein geboren sind, mit dem sie umgehen müssen und das die Vorstellungen bestimmt, wie Frauen miteinander umzugehen haben. Für dieses System steht das Anwesen – in all seiner Mächtigkeit, seinen Ein- und Ausschlüssen, seinen Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen. Wenn das prachtvolle Anwesen eine Adresse hätte, hieße sie Patriarchat.

Männer sterben bei uns nicht, so der ungewöhnliche Titel deines Romans, in dem eigentlich keine Männer vorkommen. Was bedeutet dieser Titel?
In dem Roman kommt kein einziger Mann vor, jedenfalls kein lebender, es gibt tote Großväter und abwesende Väter, aber eben keine Männer, die ihr Leben auf dem Anwesen verbringen und dort auch zu Ende bringen. Männer kommen und gehen. Es braucht aber auch keinen einzigen Mann, damit das Leben der Frauen unglücklich endet – das Unglück bescheren sie sich gegenseitig.

Deine Frauenfiguren sind sehr unterschiedlich und teilweise exzentrisch. Sie sind alle eng aneinander gebunden, aber gleichzeitig können sie nicht miteinander, weil sie nie gelernt haben, sich zu vertrauen. Was hindert sie daran?
Schuld und Scham.

Das berühmte Zitat von Tolstoi: „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich“, trifft das auf die Familie in deinem Buch zu oder ist das Unglück der von dir beschriebenen Familie doch repräsentativ?
Dass Schwestern, Mütter und Töchter, Schwiegertöchter und Schwägerinnen nicht gelernt haben, so miteinander umzugehen, dass sie sich gegenseitig stärken, ist etwas, das sich in sehr vielen Familien beobachten lässt. Frauen lernen nicht, sich an anderen Frauen ihrer Familie zu orientieren und für sie einzustehen, sondern viel eher, sich gegenseitig die Schuld für ihr vermeintliches Scheitern zuzuschieben oder sich für ihre Unzulänglichkeiten zu schämen. Das hat etwas mit den Positionen zu tun, die Frauen in familiären Strukturen, über die das patriarchale System organisiert ist, zugewiesen werden. Wenn Frauen sich einordnen, werden sie belohnt, müssen sich dann aber von anderen Frauen, die sich nicht einordnen, distanzieren. Wenn sie sich nicht einordnen, verlieren sie Privilegien und werden im Stich gelassen. Ob sie also im System bleiben oder nicht: Es bleibt schwierig. In dieser Familie und in anderen.

Dein Roman ist voller kleiner besonderer Szenen, die sich einem für immer in das Gedächtnis einbrennen. Welche ist deine Lieblingsszene?
In allen meinen Romanen gibt es eine scharfzüngige, glamouröse ältere Frau. In diesem Roman ist es die Großmutter, die Herrin des Anwesens. Sie zeigt sich von Gefühlen aller Art eher unbeeindruckt, selbst nach dem Tod ihres untreuen Ehemanns wahrt sie perfekt die Form. Als er stirbt, tauscht sie die weißen mit den schwarzen Perlen, das war’s. Doch als ihre Enkelin sie am Abend nach der Beerdigung besucht, hat sie einen völlig schief geschnittenen Pony, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren. Sie, die schon zum Frühstück elegant gekleidet und frisiert erscheint, sieht aus, als hätte ein kleines Mädchen mit einer Bastelschere Hand angelegt. Die beiden, Enkelin und Großmutter, kommen schweigend überein, die Fransen zu ignorieren und stattdessen der Enkelin die Haare zu flechten. Ich habe diese Szene so deutlich vor mir ablaufen gesehen, dass ich beim Schreiben kaum hinterhergekommen bin – die perfekte Welle, ein seltenes Glück.

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