5 Fragen an ... Anna Gavalda

5 Fragen an ... Anna Gavalda

Anna Gavalda, Ihr erstes Buch war ein Erzählband. Jetzt sind Sie nach mehreren erfolgreichen Romanen wieder zu der kurzen Form zurückgekehrt. Warum?
Ich weiß es nicht. Das entscheiden meine Figuren, nicht ich. Manchmal müssen sie eine weite Strecke zurücklegen, um loszuwerden, was sie auf dem Herzen haben, dann wiederum reicht ihnen ein kurzer Spaziergang. Manchmal haben sie keine Lust, ihr ganzes Leben zu erzählen, sondern nur einen Augenblick. Es ist eine Frage des Atems, des Taktgefühls, der Dynamik. Ich passe mich dem Herzschlag meiner Figuren an, ihrer Sensibilität. Ich erzwinge nichts, ich bin schon glücklich, wenn sie mir etwas zu erzählen haben.
Erzählungen sind wie Fugen oder Impromptus für einen Musiker oder Skizzen für einen Maler, entscheidend ist nicht, wie viel Zeit man für ein Werk aufwendet, entscheidend ist, welche Emotion es freisetzt. Das gehört meiner Meinung nach zu den großen Privilegien unseres Métiers. Wir folgen unseren Träumereien, und unsere Träumereien haben nie ein und dieselbe Intensität. Wir sind Handwerker. Wir stellen nichts her, wir modellieren nur.

Meine Lieblingsgeschichte in „Ab morgen wird alles anders“ ist »Mathilde«. Eine junge Frau verliert ihre Handtasche mit einem großen Geldbetrag, der ihr nicht gehört. Anschließend lernt sie einen Mann kennen, dem sie ohne dieses Missgeschick nie begegnet wäre. Welche Rolle spielt der Zufall in Ihren Geschichten?
Ich misstraue dem Wort »Zufall«, ich spreche lieber von »Begegnung«. Es gibt keine Geschichte ohne Begegnung. Die Begegnung mit einem Mann oder einer Frau, die Begegnung mit anderen oder die Begegnung mit sich selbst. Begegnungen sind viel schöner als der Zufall. Eben wegen der oben erwähnten Dynamik. Alles, was wir erleben, berührt uns in unserem Innersten. Ohne die Dynamik unseres Herzens gingen Zufälle unbemerkt vorbei. Ich glaube sehr an die Kraft des menschlichen Herzens.
Natürlich kann man wundervolle Zufallsbegegnungen haben, aber ohne den Wunsch, aus sich herauszugehen, sich in der Welt umzuschauen, anderen Menschen, seiner eigenen Wirklichkeit und dem eigenen (Über)Lebenswillen gegenüber offen zu sein, gäbe es den Zufall nicht.
Wir selbst sind der »Deus ex machina«, der unserem Leben erlaubt, die Richtung zu ändern. Unsere Sensibilität, unser Blick, die Lebendigkeit unseres Herzens erlauben uns, Geschichten zu erleben und von ihnen zu erzählen.

Eine andere Geschichte, »Yann«, schildert einen jungen Mann, der sein Leben von einem Tag auf den anderen umkrempelt. Haben Sie an bestimmte jüngere Leser gedacht, als sie diese Geschichte schrieben?
Ich denke an niemand Bestimmten, wenn ich eine Geschichte erzähle. Ich denke bloß an meine Figuren und versuche, mich so gut es geht in ihren Dienst zu stellen, so ehrlich wie möglich. Ich arbeite mit Klaviatur UND Stimmgabel. Es geht mir darum, in möglichst einfachen und treffenden Worten niederzuschreiben, was sie zu sagen haben, und ihre innere Melodie mit den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets zu transkribieren. Ich verschwende keinen Gedanken daran, an wen sie sich wenden könnten, da sie sich in Wahrheit zuallererst an sich selbst wenden. Und nur, wenn ihnen das gelingt, haben sie eine kleine Chance, das Herz eines möglichen Lesers zu erreichen. Ich spreche hier nicht von Ehrlichkeit, es ist egal, ob sie ehrlich sind oder nicht, ich bin weder ihr Beichtvater noch ein Moralapostel. Mich interessiert nicht die Wahrheit, mich interessiert die Glaubwürdigkeit. Mir ist egal, ob sie lügen, Hauptsache ihre Lüge klingt echt. Hauptsache, die Musik klingt gut und nicht dissonant. Eine harmonische Lüge interessiert mich mehr als eine falsch klingende Wahrheit.
Ich hatte also keine speziellen Leser im Blick, als ich Yann zu Wort kommen ließ, mich hat nur interessiert, ob er glaubwürdig ist, aber es ist wahr, ich hätte ihm gern zugehört oder ihn gekannt, als ich in seinem Alter war, ich hätte mich dann weniger allein gefühlt.
Wäre ich Yann damals »begegnet«, hätte er mich ganz sicher inspiriert. Er hätte mir beim Erwachsenwerden geholfen. Und sei es nur wegen der schlichten Frage, die er sich irgendwann stellt: Wie kann man einen Menschen, den man nicht mehr liebt, verlassen, wenn man selbst ein freundlicher Mensch ist? Ich wäre glücklich gewesen, hätte ich mit zwanzig oder fünfundzwanzig seine Entwicklung verfolgen können.

Drei der fünf Erzählungen in diesem Band sind in Frankreich bisher nicht erschienen. Können Sie uns sagen, wann und in welchem Zusammenhang sie erscheinen werden?
Sie werden im Mai zusammen mit anderen bisher unveröffentlichten Erzählungen erscheinen. Der Titel steht noch nicht fest.

Sie sind eine sehr genaue Beobachterin: von Frauen, von Männern, von Verhaltensweisen. Machen Sie sich manchmal im Alltag Notizen, um später in Ihren Geschichten darauf zurückzugreifen?
Ja, genau wie ein Maler habe ich ein Skizzenbuch, das ich unablässig füttere.

Sogar in der Rubrik »Notizen« auf meinem Smartphone gibt es jede Menge davon. Sie grummeln vor sich hin und brennen darauf, endlich ans Licht gelassen zu werden.
Während ich diese Fragen beantworte, schaue ich auf mein Handy und lese: »20.9.2016, Sainte Chapelle, Reliquie der Träne, die Christus vergossen hat, als er vom Tod des Lazarus erfuhr.«
Ich weiß nicht, warum mich diese Information inspiriert, aber sie inspiriert mich. Ich stelle mir vor, es könnte ein schöner Ort sein, an dem sich zwei Menschen hier auf Erden wiederbegegnen (rein zufällig natürlich).
Stellen Sie sich vor, die beiden treten über eine Internetseite miteinander in Kontakt und einer schreibt dem anderen – als wäre es eine Schatzsuche, ein Eignungstest oder ein Instrument, um die Sensibilität und Neugier des Unbekannten zu messen –: »Treffen wir uns morgen um zwölf vor der Träne, die Christus vergossen hat, als er vom Tod des Lazarus erfuhr.« Und dann wollen wir mal sehen, ob der andere am nächsten Tag um zwölf wirklich dort erscheint.
Ein verlockender Einstieg in eine Geschichte, das müssen Sie zugeben, oder?

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