5 Fragen an ... Alexei Makushinsky

5 Fragen an ... Alexei Makushinsky

Alexei Makushinsky, welcher Gedanke stand am Beginn des Schreibens Ihres Romans?
Ich weiß nicht, ob es ein Gedanke war. Eher eine Vorstellung – von der Begegnung zweier Menschen, die als Kinder befreundet waren und dann ein ganzes (oder ein halbes) Leben völlig unterschiedlich verbracht haben, meinetwegen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. Es gibt gewisse Ähnlichkeiten – aber auch Unähnlichkeiten zwischen den beiden; das heißt, das Motiv des Doppelgängertums klingt leise an, aber nur sehr leise. Trotzdem ist es eine Art Begegnung des Menschen mit sich selbst – oder auch wieder nicht – zumindest mit der eigenen Vergangenheit, mit den verschütteten Schichten des eigenen Selbst. So entstand diese Vision von der (scheinbar zufälligen) Begegnung beider Helden auf dem Dampfschiff, das sie in die Neue Welt und gewissermaßen in ein neues Leben bringt – die Achse des Buches. Sehr schnell wurde mir auch bewusst, in welcher historischen Konstellation das alles passieren könnte; der Roman bekam seine Struktur.

Was hat Sie daran gereizt, an Hand einer Figur mehr oder weniger ein ganzes Jahrhundert zu erzählen?
Daran habe ich gar nicht gedacht... oder vielleicht doch ein bisschen? Zumindest die Daten sprechen dafür, z.B. die Lebensdaten meines Helden (1901 - 1989), oder die Tatsache, dass die soeben erwähnte „Achse des Buches“ genau in die Mitte des Jahrhunderts, in das Jahr 1950 fällt. Trotzdem setzte ich mir kein solches Ziel, das wäre auch zu frech gewesen. Mich faszinierte eher das Faktische, das Tatsächliche – oder vielmehr ein Zusammenspiel des Faktischen und des Fiktiven. Der Held ist erfunden – aber die Welt, in der er lebt, wo er in den Krieg geht oder seine architektonischen Meisterwerke baut, ist von der historischen Substanz durchdrungen (wenn es sich nicht gerade um eine von ihm gebaute und von mir völlig erfundene argentinische Stadt handelt; aber das ist eher eine Ausnahme). Ich kann diese Faszination nicht erklären; sie ist einfach da. Zum Beispiel wird in dem großartigen frühen Roman von Marguerite Yourcenar "Der Fangschuss" (der für mich allein schon deshalb so bedeutend ist, weil er im baltischen Bürgerkrieg spielt) dieser Krieg im Baltikum, in Kurland und Lievland, als ein Chaos von namenlosen Handlungen, kleinen Schießereien, Kämpfen und Vor- und Rückmärschen dargestellt, irgendwo, irgendwann. Ich wollte einen anderen Weg gehen. Wenn man etwa Kriegserinnerungen liest, gewinnt man folgenden Eindruck: jeder Vormarsch, Rückzug, Zusammenstoß mit dem Gegner vollzieht sich an einem präzisen Ort, an einem bestimmten Datum. So war es mir wichtig zu wissen, wo tatsächlich an dem oder jenem Tag im März oder Mai 1919 die sogenannte Abteilung Lieven sich befand, in dem mein (fiktiver) Held kämpft, und wenn er nach meinen Plänen anderswo sein sollte, etwa an der Spitze der Baltischen Landeswehr bei der Befreiung Rigas von den Bolschewiken, so schickte ich ihn nicht einfach dorthin, sondern erfand eine Begründung (ob eine plausible oder nicht, darüber kann man natürlich streiten).
Gibt es für Alexandre Vosco ein reales Vorbild?
Überhaupt nicht. Es gibt mehr oder weniger reale Vorbilder für einige Nebengestalten, die Hauptgestalten wiederum sind von mir voll und ganz erfunden. Ich möchte allerdings fragen, was hier „erfinden“ heißt? Denn beim Schreiben habe ich nicht den Eindruck, dass ich etwas „erfinde“; vielmehr dass etwas in mir und durch mich „sich erfindet“. Auf die Gefahr hin, für wahnsinnig gehalten zu werden, gestehe ich, dass ich mit meinem Helden immer noch spreche, ihn um Rat oder um Beistand bitte. Antworten tut er nicht, so weit reicht mein Wahnsinn doch nicht, aber einen gewissen Beistand leistet er, davon bin ich überzeugt...

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Architektur für eine Gesellschaft?
Ich denke, eine gewaltige. Zumindest drückt die Architektur den sogenannten Zeitgeist so klar aus, wie vielleicht keine andere Kunst sonst. Es wäre ein leichtes, hier etwa die berühmte Formel von Günther Behnisch zu erwähnen, das „Bauen für die Demokratie“, und diesem demokratischen Bauen diverse Formen der totalitären Architektur entgegenzusetzen. Interessanter für mich ist der Eindruck der (rational wohl kaum definierbaren) „Sinnhaftigkeit“, den die Architektur vermittelt und die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die „Natur“ prägt. Einer meiner Lieblingsarchitekten – Tadao Ando – spricht in einem Artikel von drei Elementen der Architektur. Erstens ist es der Ort, der „locus“ (mit seinem „Genius loci“); zweitens die „Geometrie“; und drittens die „Natur“, und zwar eine vom Menschen modellierte, organisierte Natur. Wenn ich diesen Gedanken richtig verstehe, so möchte ich ihn vielleicht so deuten: Ein Baum „in der Natur“ mag unendlich schön sein, aber er bleibt gewissermaßen „nur“ ein Baum. Ein Baum hingegen, der vor einem Gebäude steht, ein Baum, dessen Schatten auf eine (meinetwegen: Beton-) Fläche fällt und auf dieser Fläche vom Wind bewegt wird und mit Sonnenflecken spielt, derselbe Baum, dessen Zweige und Blätter sich in einer Glasfläche spiegeln usw., – dieser Baum bekommt eine „menschliche“, weil von einem Menschen, dem Architekten, durchdachte und vorausgeplante Bedeutung, folglich eine „Sinnhaftigkeit“, die sich wohl nur menschlichen Dingen eignet. Daher kommen vielleicht auch die Glückserlebnisse, die uns die Architektur bescheren kann.

Glauben Sie, man muss mehrere Leben in einem gelebt haben, um glücklich zu sein?
Das ist eine schöne Frage! Ich habe nie darüber nachgedacht, oder nicht so darüber nachgedacht, aber wenn ich diese Frage lese, möchte ich spontan mit Ja! antworten. Andererseits glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, dass man glücklich „sein“ kann, Glück ist für mich kein dauerhafter Zustand, es ist eher ein „Erlebnis“, ein intensiver Moment, ein „Wetterleuchten des Glücks“, wie Tolstoi sagte (wenn man den Erinnerungen von Iwan Bunin glauben darf...).

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