5 Fragen an ... Abbas Khider

5 Fragen an ... Abbas Khider

Lieber Abbas Khider, im Palast der Miserablen erzählen Sie die Geschichte eines Jungen aus den Slums von Bagdad. Wie kam es innerhalb Ihres Schreibens zu diesem Weg zurück in die Stadt, in der Sie aufgewachsen sind?
Das hat sich von selbst ergeben. Die ursprüngliche Idee war, einen Roman zu schreiben, der in einem namenlosen Land spielt. Die erste Fassung war so angelegt. In den nächsten Fassungen hat sich das dann aber alles völlig anders entwickelt. Nach drei Jahren beendete ich die achte und letzte Fassung dieses Romans, in dem Bagdad eine große Rolle spielt. Das Ganze war nicht meine Entscheidung, vermutlich haben mir das die Geister des Schreibens geflüstert, oder mein Unterbewusstsein zwang mich dazu. Aber es geht hier eigentlich auch nicht so sehr um Bagdad, sondern mehr um die Slums dieser Stadt. Ich wollte schon lange einen Roman über das Leben in einer armen Gegend schreiben. Übrigens, ich komme selbst aus einem Armenviertel.

Shams wächst auf im von Saddam Hussein beherrschten Irak. Wer ist Shams Hussein, was ist er für ein Junge?
Shams ist keine aufregende Figur. Er ist schlicht und nicht mit allen Wassern gewaschen, ist aber sehr herzlich und hilfsbereit. Er hat keine starke Persönlichkeit wie seine Schwester, er wünscht sich nur die einfachsten Dinge des Lebens. Um diese zu erreichen, muss er kämpfen, obwohl er keine kämpferische Seele hat. Er befindet sich unaufhörlich in einer Notlage: Armut und Existenzkampf. Er ist immer angewiesen auf die anderen, die ihm helfen, die Welt und das Leben um sich herum zu begreifen oder zu ertragen. Auch sein Handeln ist oft von den anderen beeinflusst. Shams ist einfach gestrickt. All diese Merkmale sind typisch für viele Personen, die unter harten Umständen leben und in Armut aufwachsen. In der Literatur werden oft starke Persönlichkeiten präsentiert, die ständig das Abendteuer suchen. Shams ist aus den Slums, er sucht das Abendteuer nicht, er hat keine Zeit dafür, sein Leben besteht aus Chaos und Not. Die Suche nach einem ruhigen einfachen Leben ist sein Abenteuer.

Warum sind gerade die neunziger Jahre im Irak für einen Roman und für die Literatur so interessant?
Es gibt viele Romane über das Leben im Krieg oder nach dem Krieg – Nachkriegsliteratur ist ja ein Begriff –, auch unzählige Literatur über das Leben in einer Diktatur, aber es gibt selten Romane über eine Gesellschaft, die sich unter Totalembargo befindet. Und die Iraker befanden sich in den Neunzigern nicht nur unter einem Embargo, sondern auch in einer Nachkriegszeit und unter einer Diktatur zugleich. Das sind gewaltige, unvorstellbare Umstände. Diese Zeit ist bis heute literarisch kaum verarbeitet. Wenn man sich die heutigen Verhältnisse im Irak jedoch anschaut, dann ist es diese Zeit, die der Gegenwart den Stempel aufgedrückt hat. Seltsamerweise werden immer noch Embargos als politisches Druckmittel eingesetzt, ohne das wir wissen, was das für die Menschen heißt, die es betrifft. Was es heißt, wenn die Not so weit führt, dass einer bereit ist, seine eigenen Kinder zu verkaufen? Wie wachsen Jugendliche da auf? Literatur kann zeigen, was unter solchen Umständen vom Menschen bleibt.

Shams liebt die Literatur. Die Bücher sind sein großes Glück, werden aber auch zu seinem Verhängnis. Was kann Literatur für einen jungen Menschen an diesem Ort und in dieser Zeit bedeuten?
In den Neunzigern im Irak lebte man wie in einem dunkeln Loch. Das ganze Land wirkte wie ein riesiges Gefängnis. Damals lernte der Rest der Menschen Satelliten-TV, Handys und das Internet kennen, die gesamte Welt veränderte sich, aber dort in der irakischen Gesellschaft existierten diese Dinge nicht. Man hatte auch nie davon gehört. Wie auch? Wir reden über ein Totalembargo in einer Diktatur. Man kam nicht mal an Literatur, es gab ja keine Neuerscheinungen, ja gar keine freie Schrift. Unter solchen Bedingungen ist Literatur eine Gefahr, oft auch eine Dummheit. Und die ewige Frage ist wieder da: Wonach tastet ein hungriger Mensch zuerst, nach einem Buch oder nach einem Brötchen? Dazu kommt: Ein Wort kann in einer Diktatur das Leben kosten. Deshalb ist sie so spannend für den jungen Mann Shams, der in ihr eine Art Zuflucht vor der Realität findet. Diese Realität holt ihn jedoch immer wieder zurück.

Wer Ihren Roman liest, der wird sich an einer Stelle im Text vielleicht ganz direkt angesprochen fühlen. Da tauschen sich die Literaten darüber aus, dass einer aus ihrem Kreis, ins Exil flüchten und die Geschichten der Menschen niederschreiben soll, damit die Welt davon erfährt. Diese Auseinandersetzung mündet in die Frage: „Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.“ – Glauben Sie, dass Literatur daran etwas ändern kann?
Europa war immer mehr als ein Kontinent, Europa war und ist immer auch eine Idee. Wenn ich mit Menschen aus der arabischen Welt spreche, sprechen die immer von einem Europa als Beschützer der Werte. Diese Erwartung ist auch ein Gefühl und genau darüber schreibe ich. Ich schreibe darüber, was Menschen denken und empfinden. Und wer liest, kann sich darin einfühlen. Literatur braucht kein Visum, um Grenzen zu überschreiten, sondern sie schafft es, über das Teilen von Geschichten Empathie und Verständnis auszulösen. Wir sind alle miteinander verbunden. Literatur macht das spürbar.

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