Über die Widmung
Was fehlt
Ich bin der König der Widmungen. Die Liste der Personen, denen ich meine Bücher widme, ist endlos, und darüber lachen dann die Journalisten. Einer hat mich sogar mal gefragt, ob ich mich bei all den Menschen, die ich zitiere, entschuldige oder ob ich sie tatsächlich würdige. Ich stutzte. Ich wusste nicht, was darauf antworten. Ich habe mir immer gedacht, dass ich zurückstrahlen sollte, dass ich all die Wärme zurückgeben müsste, die mich überkommt, wenn ich diese oder jene Figur zimmere, inspiriert von jemandem der mir nahe, oder auch weniger nahe ist. Also erweise ich all jenen die Ehre, an die ich während des Schreibens gedacht habe. Das ist lächerlich. Das führt zu Verwechslungen und unglaublichen Missverständnissen – die Leser in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin und wo ich heute noch lebe, haben ohnehin die Tendenz, sich mit den Charakteren zu identifizieren, und ich gieße noch Öl ins Feuer. Das ist eine katastrophale Angewohnheit. Und trotzdem halte ich daran fest. Das ist stärker als ich. Und er hat recht, der Journalist – natürlich entschuldige ich mich, dass ich sie mir ausborge, dass ich sie manipuliere, dass ich sie transformiere in diese fiktionalen Wesen, die sich bewegen, sich die Seele aus dem Leib schreien und, wenn sie in Hochform sind, Emotionen auslösen.
Und dann ist da „Ein Winter in Paris“. Das, was ich in diesem Buch erzähle. Ein Selbstmord an der Hochschule. Ein junger Mann, der aus einem Kurs stürmt, in dem er gedemütigt wurde, über die Balustrade klettert und sich zwei Stockwerke in die Tiefe stürzt – jede Hilfe kommt zu spät. Eine Erzählung wie ein Drahtseilakt. Ein gespanntes Seil, auf dem ich einen Fuß vor den anderen setze, vorsichtig, ganz rot vor Aufregung, das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich besiedle sie natürlich – ich beschreibe die Widmungsseite eng mit den Gesichtern, die ich flüchtig wieder gesehen habe, während des Schreibens, von denen, die mir eine Zeitlang die Wichtigsten waren und die – nach und nach – aus meinem Leben verschwunden sind. Von denen, die geblieben sind und mit denen ich meinen Weg gehe, zielgerichtet und lächelnd – so wie ich mich immer gerne sehen würde.
Ich zögere. Ich weiche aus. Ich grüble. Es fehlt ein Name. Der, mit dessen Sprung der Roman beginnt. Er steht am Anfang von allem – von diesem Buch, natürlich, aber auch von dieser Beharrlichkeit, die ein Wesensmerkmal meines Charakters geworden ist, und auch von meiner Verbundenheit zum Beruf des Lehrers, der meine Tage erhellt. Ich erkundige mich ganz unverbindlich. Über die sozialen Netzwerke kontaktiere ich Leute, die auch … Alte Kontakte, die … Niemand scheint sich zu erinnern. Man schickt mich im Kreis herum – warum muss ich derart tief graben? Ich weiß, dass ich es schaffen werde, ich kenne mich, ich belasse es nicht bei halben Sachen. Aber die Zeit vergeht. Meine Lektorin wird ungeduldig. Die Datei ist gelesen, korrigiert, beendet – der Schlusspunkt muss gesetzt werden, es gibt kein Zurück.
Es bleibt eine weiße Stelle – diskret. Ein Sprung. Niemand wird es merken, auch wenn ich nichts anderes mehr sehen werde. Noch immer, wenn ich „Ein Winter in Paris“ auf der Widmungsseite aufschlage, sehe ich nur ihn. Und die flirrende Luft nach seinem Schrei.
von Jean-Philippe Blondel
aus dem Französischen von Bettina Wörgötter
5 Fragen an …
Jean-Philippe Blondel
Nach Mathieus Selbstmord wird Victor, könnte man sagen, postum zum besten Freund des Toten. Wie sind Sie zu dieser ganz besonderen Hauptfigur Victor gekommen? Gab es einen Auslöser?
Im Oktober 1984 war ich zwanzig Jahre alt. Ich bereitete mich in einem großen Lycée in Paris auf das Studium vor. Einer der Studenten aus der Klasse gegenüber der unseren hat genau das gemacht, was Mathieu im Buch tut. Der Schrei blieb all die Jahre in mein Gedächtnis eingebrannt. Es passiert mir immer noch, dass ich nachts aufwache, weil ich ihn höre. Victor ist dem, der ich damals war, sehr ähnlich (auch wenn mein Leben viel komplizierter war). Er ist ein Doppelgänger, ein Bruder – ich habe ihn in mir leben/wiederaufleben gespürt, als ich den Roman geschrieben habe.
Mathieus Eltern treibt, nur allzu verständlich, die Frage nach dem Warum an. Gehen sie zu weit? Vereinnahmen sie Victor zu sehr?
Die Eltern von Mathieu sind vor allem eines, sie sind verloren, so wie das jeder wäre in einer so dramatischen Situation. Ich glaube, die Eltern haben in solchen Momenten alle Rechte. Die Mutter von Mathieu ist klarsichtiger, und sie ist es auch, die die Dinge zurechtrücken wird. Der Vater von Mathieu ist zerstört und fühlt sich schuldig. Er braucht Victor. Er braucht Victor, der eine Zeitlang den Sohn für ihn verkörpert, mit dem er nie sprechen konnte. Und Victor akzeptiert das, weil auch er für ein paar Wochen einen Ersatzvater braucht. „Ein Winter in Paris“ ist ein Roman über die seltsamen Bande, die wir manchmal knüpfen, zarte Bande über dem Abgrund, die uns helfen, die schwierigsten Momente unseres Daseins zu meistern.
Sie sind nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern arbeiten auch als Lehrer. Kann die Schule, die Universität, können Lehrer verhindern, dass ein Schüler einen so fatalen Schritt wie Mathieu setzt?
Was wir neben dem Unterrichten tun können, ist aufmerksam und wachsam sein. Niemals aus dem Blick verlieren, dass die, die wir da vor uns haben, noch nicht fertig und zerbrechlich sind, egal welchen Anschein sie auch zu erwecken versuchen. Und auch nie den Dialog abbrechen. Wir haben eine sehr wichtige Rolle – wir sind erwachsene Bezugspersonen und wir sind nicht die Eltern. An uns, manchmal auch gegen uns, bilden sich die Persönlichkeiten der Jugendlichen aus. Nichtsdestotrotz entgeht uns manchmal etwas und wir sehen die Verzweiflung nicht. Clauzet, einer der Lehrer im Roman, verhält sich schändlich, und so verhalten sich in Frankreich manche Lehrer leider auch tatsächlich seit dreißig Jahren – ich hoffe, dass so ein Verhalten zukünftig der Vergangenheit angehört. Ich bin Teil einer Generation, die darunter gelitten und sich geschworen hat, es besser zu machen.
Sie beschreiben in ihrem Roman sehr eindringlich, wie schwer es für einen Jungen aus der Provinz ist, in Paris Fuß zu fassen. Und umgekehrt. Wie sehr er sich, einmal angekommen, von seinen Eltern, den alten Freunden, seinem Umfeld entfernt. Kann man den Roman auch als politischen Kommentar zu den Gräben in der Gesellschaft lesen?
Ja, ganz nebenbei ist Ein Winter in Paris auch ein Roman über soziale Unterschiede, der die Wege nachzeichnet, die zum Beispiel auch Annie Ernaux oder Didier Eribon beschreiten. Der Roman zeigt, wie man nicht nur durch einen Ortswechsel, durch das Umfeld, sondern auch, weil man neue Kompetenzen und Kenntnisse erwirbt, in unsichere Gefilde gerät, weil einem bewusst wird, dass man sich von seiner Basis, seinen Wurzeln entfernt und dass der Weg ab einem bestimmten Punkt endgültig ist. Man kann nicht mehr zurück.
Und das ist natürlich auch ein Roman über Paris und die Provinz und die seltsame Beziehung, die wir, die wir aus der Provinz kommen, mit der Hauptstadt unterhalten – bestehend aus Bewunderung, Eifersucht, Neid, aber auch Zurückweisung: Wir lieben es, ein paar Tage in Paris zu verbringen, aber wir wollen nicht für alles Geld der Welt hier leben.
Sie schreiben mit Musik, haben Sie bei verschiedenen Gelegenheiten erzählt. Was haben Sie bei der Arbeit an Ein Winter in Paris gehört?
Here comes the flood von Peter Gabriel, die schlanke Version, nur das Klavier im Hintergrund. Der Song findet sich auf dem Album Shaking the tree, das die größten Erfolge des Künstlers versammelt. Ich mochte schon die erste Version, die ich 1984 sehr viel gehört habe (auch wenn sie damals schon ein paar Jahre alt war), aber ich finde, dass diese Version magisch ist, fast überirdisch. Sie hat es mir ermöglicht, mich wieder mit dem Menschen zu verbinden, der ich 1984 war, und dem, der ich geworden bin.
Das Interview führte Bettina Wörgötter