Buch
Deutschland 26,00 €
Sibirien, das ist unerbittliche Kälte und enorme Weite. Sibirien, dieses Gefängnis ohne Dach, ist aber ebenso von verblüffender Schönheit. Welch bedeutende Rolle ausgerechnet hier Klaviere als Symbol europäischer Kultur spielen, zeigt die Britin Sophy Roberts auf ihrer extravaganten Spurensuche. Dabei gelingt es ihr nicht nur, zahlreiche einst berühmte Instrumente zwischen dem Ural und der Insel Sachalin ausfindig zu machen, sondern auch ihre Geschichten zu rekonstruieren: von der Pianomanie der Zarenzeit bis zur Leidenschaft des Lotsen der Aeroflot, von der sowjetischen Manufaktur „Roter Oktober“ bis zur jungen mongolischen Pianistin Odgorel, die in ihrer Jurte Bach spielt. Sophy Roberts‘ Erkundungen führen tief in das Herz der Geschichte und erzählen uns nicht weniger von der Gegenwart.
Details zum Buch:
aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
Erscheinungsdatum: 21.09.2020
384 Seiten
Zsolnay
Fester Einband
ISBN 978-3-552-07205-3
Deutschland: 26,00 €
Österreich: 26,80 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-552-07219-0
E-Book Deutschland: 19,99 €
Ich war noch nicht lange in Sibirien unterwegs gewesen, als mir ein in Kamtschatka, einer abgelegenen Halbinsel, die aus dem östlichen Rand Russlands in den Nebel des Nordpazifik vorstößt, lebender Musiker eine Fotografie schickte. Auf dem Bild ragen Vulkane aus der Ebene, die Buckel und Höhlungen von einem A-förmigen Kegel beherrscht. In kleinen Gruben in der Landschaft hält sich noch Eis. Im Vordergrund steht ein Klavier. Der Fokus liegt auf der Musik, sie hat Publikum angelockt, zehn Personen.
Zu Füßen des Pianisten kauert ein junger Mann in einem amerikanischen Eishockeyshirt. Sein Gesicht ist von der Kamera abgewandt, und so ist es schwer zu sagen, was er denkt, ob er die Musik des Klavierspielers fesselnd findet oder die Seltsamkeit des Ortes, an dem das Instrument aufgetaucht ist. Der junge Mann lauscht, als gehöre er zu einer vertrauten Gruppe, die sich um ein Klavier in einem Salon geschart hat, ein Szene, die wie ein Motiv aus einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts aufleuchtet, statt um ein gewöhnliches, in einem Lavafeld in einer der wüstesten Landschaften der Erde gestrandetes Pianino. Es gibt keinen Begleitdialog zu der Fotografie, keine aufblühende Romanze, wie es bei Instrumenten in Tolstois epischen Romanen der Fall ist. Und keine Erklärung dafür, wie oder warum das Klavier überhaupt hier gelandet ist. Das Bild kam ohne Erwähnung dessen, was gespielt wird, Musik, die das Bild ohnehin nicht einfangen kann. Doch alle möglichen Intonationen liegen in dem Wort „Sibirien“, das in der Betreff-Zeile der E-Mail steht.
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Sophy Roberts studierte unter anderem in Oxford und an der Columbia University, New York, und arbeitete für Condé Nast Traveller, The Economist und Financial Times Weekend. Sie lebt in West Dorset (GB). Sibiriens vergessene Klaviere ist ihr erstes Buch.
Sophy Roberts, Sie sind eine bekannte Reporterin und haben viel von der Welt gesehen. Ihr erstes Buch, Sibiriens vergessene Klaviere, ist im englischen Original im Februar 2020 erschienen. Wie kamen Sie zum Schreiben? Seit meiner Kindheit wollte ich schreiben. Ich verbrachte eine glückliche Kindheit am Land, im Südwesten Schottlands, mein Vater betrieb eine Fischzucht. Orte waren für mich, für mein Schreiben seit jeher wichtig, lange bevor ich mir das Reisen leisten konnte oder als Journalistin dafür sogar bezahlt wurde. Mit zirka dreizehn Jahren schrieb ich ein Buch über unseren griesgrämigen Highland-Terrier (meine Mutter besitzt das einzige Exemplar), angesiedelt in der Heide- und Moorlandschaft meiner Kindheit. In meinen Dreißigern versuchte ich mich dann in der Belletristik. Damals schrieb ich einen Roman mit dem Titel The Butterfly Tide. Darin geht es um ein Kind, das durch eine Monsterwelle an einem Strand in Südirland ums Leben kommt. Auch diese Gegend kenne ich gut, weil mein Vater ein begeisterter Lachsfischer ist. Der Roman war nicht besonders gut, er liegt in einer Schublade bei mir zuhause.
Und dann ging es direkt zum erzählenden Sachbuch? Erst in meinen Vierzigern habe ich erkannt, dass meine Berufung als Schriftstellerin darin liegt, die Geschichten anderer Leute aufzuzeichnen. Erzählende Sachbücher mit einem Schwerpunkt auf Erinnerungen von lebenden Menschen aus Fleisch und Blut, nicht nur aus Büchern bezogene Geschichten. Das ist für mich das richtige Vehikel für jene Art Empathie, die ich als Autorin und Reporterin entwickeln will. Ich möchte an Türen klopfen und Geschichten erfahren, die bis jetzt nicht erzählt worden sind. Autorin zu sein bietet einem eine Art magischen Zugang.
Wie muss man sich die Herangehensweise bei einem so großen Thema wie Sibiriens vergessene Klaviere vorstellen? Von der Logistik her war das natürlich eine große Herausforderung. So lange Zeit in Sibirien, getrennt von meinen beiden kleinen Kindern in England, fast zehntausend Kilometer weit weg. Aber ich hatte mit meinem Verleger einen Abgabetermin vereinbart, und der erwies sich als sehr fordernd, war doch Sibirien viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte (ein Elftel der weltweiten Landmasse). Als ich 2018 die erste Fassung von _Sibiriens vergessene Klaviere_ abgeschlossen hatte, war es ein Reisebuch. Und ich dachte, das wäre gut so. Die Stimme der Ich-Erzählerin war stark, eine Reihe von Erfahrungen, Erinnerungen, Interpretationen und Vorurteilen. Die Reise führte in einer Art Bogen von einem Rand Sibiriens zum anderen.
Dabei ist es aber dann nicht geblieben. Nein, mein US-amerikanischer Verleger (Morgan Entrikin von Grove) war vollkommen anderer Ansicht. Er meinte, er brauche nicht noch ein Reisebuch; die Gattung selbst müsse neu belebt werden. Er hatte recht. Ich musste noch einmal alles durchdenken, zuhören und neu schreiben. Eine Woche haben wir uns dann zurückgezogen und auf seinem Küchentisch das Buch neu strukturiert, rund um das Objekt, das im Fokus stand, das ich suchte: Es ging um das Klavier und seinen Einfluss auf die russische Kultur, vom Ende des 18. Jahrhunderts, als Klaviere erstmals eingeführt wurden, bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Chronologie veränderte sich von der einer Reise zu einem erzählerischen Bogen, den die Geschichte der Klaviere in Sibirien vorgab. Nicht mehr meine Reise stand jetzt im Mittelpunkt, sondern es entstand eine viel faszinierendere Mischung aus Musikgeschichte, Reiseerzählung und Naturbeschreibung.
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