Buch
Deutschland 24,00 €
„So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen.“ Karen Köhlers erster Roman – über eine junge Frau, die sich auflehnt. Gegen die Strukturen ihrer Gesellschaft und für die Freiheit
Ein Dorf, eine Insel, eine ganze Welt: Karen Köhlers erster Roman erzählt von einer jungen Frau, die als Findelkind in einer abgeschirmten Gesellschaft aufwächst. Hier haben Männer das Sagen, dürfen Frauen nicht lesen, lasten Tradition und heilige Gesetze auf allem. Was passiert, wenn man sich in einem solchen Dorf als Außenseiterin gegen alle Regeln stellt, heimlich lesen lernt, sich verliebt? Voller Hingabe, Neugier und Wut auf die Verhältnisse erzählt Miroloi von einer jungen Frau, die sich auflehnt: Gegen die Strukturen ihrer Welt und für die Freiheit. Eine Geschichte, die an jedem Ort und zu jeder Zeit spielen könnte; ein Roman, in dem jedes Detail leuchtet und brennt.
Details zum Buch:
Erscheinungsdatum: 19.08.2019
464 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26171-6
Deutschland: 24,00 €
Österreich: 24,70 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-26490-8
E-Book Deutschland: 17,99 €
Deutschland 24,00 €
Deutschland 12,99 €
Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Ich war schon von Anfang an so hässlich, dass meine eigene Mutter mich lieber hier abgelegt hat, statt mich zu behalten. So eine wie ich, sagen sie, so eine kann nicht von hier sein, so hässlich ist hier niemand, solche Mütter gibt’s hier nicht. Sie sagen, in einen Karton voller Zeitungspapier hat sie mich gelegt, die eigene Mutter, wie Müll, den man zum Müll legt. Den Karton, sagen sie, hat sie auf eine Stufe der Treppe zum Bethaus gestellt. Mitten in der Nacht, mitten im Regen, mitten im Winter. Was für eine Mutter, sagen sie, was für eine Sünde, und schauen nach oben dabei, das ganze Dorf hat sie damit befleckt. Und dass ich von drüben bin, das ist ja offensichtlich, und dass von dort seit jeher nur Schlechtes gekommen ist. Und sie machen diese Bewegung mit der Hand, die sie immer machen, wenn sie klagen. So eine wie mich, sagen sie, so eine hätten sie weggemacht.
Und ich mach mich weg, jeden Tag mach ich mich weg. Jetzt gerade, mit dem Einkaufsnetz in der Hand, mach ich mich weg, weil: Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Das rufen mir die Kinder hinterher, das war noch nie anders, die Worte waren schon immer da, nur die Kinder sind immer andere Kinder, sie wachsen stets wieder nach und folgen mir als schimpfende Traube durchs Dorf auf dem Weg vom Laden hoch zum Bethaus. Und wegen der Sache mit meinem Bein kann ich nicht schnell, und das wissen sie nur zu gut.
Ich mach mich also weg, drehe die Welt einmal um und setze mir die Schimpftirade als Krone auf, bis die Kinder von mir ablassen, weil in der Kurve beim Brunnen die alten Frauen auf ihren Stühlen sitzen und die jetzt dran sind. Alle in Schwarz, alle ganz starr, alle ganz Auge, stumm, verschlossen, zu. Und wie sie gucken und zischeln und mit den Mundwinkeln zucken, als ich auf ihrer Höhe bin. Und Handbewegungen, und Himmelwärtsblicke. Ich weiß nicht warum, weiß nicht, was heute anders ist, vielleicht bin ich voll wie ein Gefäß, in das nichts mehr hineinpasst, kein Blick, kein Zischeln, kein Schnalzen mehr. Vielleicht ist es, weil ich blute und mich alles leichter reizt, aber heute bleibe ich vor den Frauen stehen, hebe meinen Blick und schaue zurück. Eine nach der anderen schaue ich mir an, ganz langsam schaue ich direkt in ihre Gesichter. Sie sind die Ältestenfrauen, sie ziehen sich das Leid der Anderen an wie ein Gewand, das ihnen ganz genau passt. Sie sind die Klageweiber, die über unsere Leichen gebeugt weinen, sich die Zöpfe lösen und die Haare raufen. Sie sind die Lebensgeschichtenbewahrerinnen, die nach deinem Tod dein ganzes Leben besingen. Sie sind die Mütter, Groß- und Urgroßmütter des Dorfes, von Regeln gebeugt, vom Leid verzerrt, vom Alter verrunzelt, von Arbeit, Krankheit und Dreck zermürbt, von Hass und Missgunst zerfressen. Ich sehe sie mir an. Sehe sie mir ganz genau an.
Die ungekürzte Hörbuch-Ausgabe von Miroloi wird von der Autorin selbst gelesen und erscheint bei ROOF Music.
VÖ: 28.08.2019 | 2 MP3-CDs | 11 Std. I Digipak
25,00 Euro (UVP)
ISBN: 978-3-86484-595-6
Karen Köhler hat Schauspiel studiert und zwölf Jahre am Theater in ihrem Beruf gearbeitet. Heute lebt sie auf St. Pauli, schreibt Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Theaterstücke stehen bei zahlreichen Bühnen auf dem Spielplan. 2014 erschien ihr viel beachteter Erzählungsband Wir haben Raketen geangelt. 2017 erhielt sie für ihren Roman Miroloi ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, 2018 das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Karen Köhler
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Karen Köhler, Sie haben 2014 mit Wir haben Raketen geangelt mit einem Band mit Kurzgeschichten debütiert – und veröffentlichen jetzt einen weit über vierhundertseitigen Roman: Miroloi. Das war bestimmt ein völlig anderes Schreiben, nicht?
Na klar, es war ganz anders. Man schiebt jahrelang diese Textbugwelle vor sich her, kämpft, zweifelt und erschöpft sich, weil einem das Gefühl, etwas abgeschlossen zu haben, sehr lange verwehrt bleibt. Das war bei den Erzählungen anders, ich habe sie nach und nach geschrieben und immer die Zwischendurchbelohnung des Fertigseins bekommen. Erzählungen haben zudem mehr Tempo, springen in eine Situation rein, man bekommt beim Schreiben schneller einen Überblick, die Personage ist kleiner. Miroloi hingegen ist viel ruhiger aufgebaut … Ich weiß ja auch nicht, wie das Schreiben geht, es ist mein erster Roman und eigentlich ist Miroloi ein Prokrastinationsergebnis. Ein sehr umfangreiches, zugegebenermaßen. Ich saß eigentlich an einem anderen Text und brach mir während der ersten 40 Seiten fast die Finger an der Tastatur, so langsam ging es vorwärts, so zäh war die Arbeit, ich hatte den Tonfall nicht. Und dann geisterte plötzlich diese Stimme in meinem Kopf herum, die etwas ganz anderes erzählte. Das nervte mich so, dass ich sie aufschrieb, damit sie endlich aus dem Kopf war. Drei Wochen später hatte ich 80 Seiten geschrieben. Ich war quasi links abgebogen und hatte den alten Text hinter mir gelassen.
Ich habe mich auch nicht hingesetzt und gesagt: So, jetzt schreibe ich einen Roman. Die Geschichte hat sich ihren Raum eingefordert. Sie ist so lang geworden, wie sie geworden ist.
Miroloi führt seine Leserinnen und Leser tief hinein in eine archaische Dorfwelt auf einer Insel, ein gutes Stück weg von unserer Zivilisation. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem sehr besonderen Schauplatz?
Nach den Raketen habe ich erstmal nur Theaterstücke geschrieben. Ich mag Dialoge, man kann schneller schreiben und auf aktuelle Themen schneller reagieren. Der Erfolg des Erzählbandes hat mir auch Angst gemacht vor dem zweiten Buch. Es gab Tage, Wochen, Monate, da dachte ich, ich habe nichts mehr zu sagen. Das muss ich ja vor mir selbst rechtfertigen können, dass da Bäume gefällt werden, Papier verbraucht wird für die eigene Idee. Ich war auf langer Lesereise und in dieser Zeit kam ich nicht viel zum Prosaschreiben. 2015/16 hatte ich dann eine totale Schreibkrise. Die Welt veränderte sich schneller, als ich sie verarbeiten konnte, und ich wollte weder ausweichen noch banal werden. Der Irrsinn des Krieges, des Neofaschismus, des Klimawandels, was aus Europa wurde, und das alles immer eingebettet in den Kapitalismus, in den Konsum, und der wiederum eingebettet in Selbstoptimierungsapps und Timelines, die von Werbung durchzogen sind, welche die Realität pervertiert. Dieser permanent abrufbare, nie aufhörende Informationsfluss online und das Gefühl der eigenen Ohnmacht haben bei mir zur literarischen Depression bis zum völligen Verstummen geführt. Anders als Journalist*innen, die ein Handwerk zur Verfügung haben, genau solche Veränderungen schnell aufzugreifen, braucht Literatur viel mehr Zeit. Und das journalistische Handwerkszeug besitze ich leider nicht. Dann habe ich jedenfalls über Perspektive nachgedacht. Was muss und kann von mir erzählt werden? Und habe angefangen, rauszuzoomen, weg aus meiner urbanen Lebenswirklichkeit. Und plötzlich war dann diese Stimme da … Ich wollte von einer Stellvertreter*innengesellschaft erzählen. Auf einer Insel im Mittelmeer hatte ich die perfekten geografischen Bedingungen für die Geschichte gefunden, die ich erzählen wollte, denn ich wollte unbedingt eine zivilisatorische Abgeschiedenheit beschreiben. Ich bewarb mich für das Grenzgänger-Stipendium (das ja leider abgeschafft werden soll, wie schade ist das denn bitte?), und meine Recherchen wurden gefördert. Ich habe Interviews geführt und insgesamt mehr als vier Monate vor Ort recherchiert und gearbeitet.
Warum spielt das Buch nicht einfach in unserer Gegenwart?
Es wird nie genannt, wann oder wo Miroloi genau spielt. Man könnte es aber dechiffrieren und einen Zeitraum eingrenzen, wenn man gewieft ist und die Puzzleteile zusammensetzt. Ich wollte einen Abstandhalter, um mit seiner Hilfe besser auf das Wesentliche schauen zu können.
Für Ihren Roman haben Sie Interviews geführt und die Dorfbewohner gezeichnet, über Mondphasen genauso nachgedacht wie über die Gesetzestexte der Insel … Warum mussten Sie so viele Dinge so genau wissen für den Roman?
Weil ich doch die Sachen wissen muss, die ich schreibe. Also male, webe, sticke ich sie auch. Also befrage ich Menschen, oder höre einfach nur zu. Dass wir den solaren Kalender haben, ist ja auch Teil einer Entwicklung, viele religiöse Feiertage richten sich nach dem Mond, zum Beispiel Ostern. Ich kann besser über Dinge schreiben, die ich kenne. Was ich nicht kenne, muss ich also in irgendeiner Form recherchieren und kennenlernen, es muss einmal durch mich durch, damit ich den*die Leser*in vertrauensvoll durch die Geschichte leiten kann. Ich bin ein eher dünnhäutiger Mensch, nehme sehr viel zur selben Zeit wahr und bin der Welt in einem Maße ausgesetzt, das nicht immer gesund oder heilsam ist. Ich bin meistens komplett überfordert mit den kleinsten Kleinigkeiten. Mich auf Einzelnes in Ruhe zu konzentrieren hilft mir, sicheren Tritt unter den Füßen zu haben, wenn ich schreibe.
Immer wieder geht es im Roman um nicht weniger als Freiheit, wenn die Erzählerin sich langsam aus den Konventionen ihrer Umwelt befreit. Ist Miroloi ein pessimistisches oder ein optimistisches Buch?
Für mich ist es beides. Es zeigt den Menschen in seiner abgrundtiefen Hässlichkeit. Es zeigt mir aber auch, dass es sich lohnt zu kämpfen: Für Bildung und gesichertes Wissen, für Freiheit und Unabhängigkeit, für Solidarität und Gleichberechtigung. Miroloi ist darin zeitlos, hoffe ich.
„Ich schreibe an unterschiedlichen Orten, für meinen Roman MIROLOI habe ich beispielsweise sehr viel in Griechenland recherchiert und mir dort immer eine abgelegene Taverne mit Blick aufs Meer zum Schreiben gesucht. Wenn ich ein Aufenthaltsstipendium habe, nehme ich aus meinem Arbeitszimmer Bilder und Karteikarten mit, die ich an den fremden Wänden aufhänge. Mein Arbeitsraum in Hamburg ist mein Herzstück. Er liegt außerhalb der kleinen Wohnung, die ich mit meinem Freund teile. Hier schreibe, nähe, bastele, male, zeichne, webe, nähe, klebe, sticke, stricke und häkele ich. Für MIROLOI habe ich eine ganze Zimmerwand vollgehängt mit Fotos, Illustrationen, Fundstücken, Karten, Federn und Knochen. Die Wand ist mit dem Text gewachsen und irgendwann war sie völlig zugewuchert. An der übereckliegenden Wand hatte ich sehr streng eine 3-Akt-Struktur mit Karteikarten installiert. Für jede Strophe gab es eine Karte. Als Florian Kessler zum Lektorat nach Hamburg kam, habe ich ihn in meinen Arbeitsraum eingeladen, obwohl es ein sehr intimer Ort für mich ist. Als er das Zimmer betrat meinte er: Krass, ich habe das Gefühl, ich bin gerade in Deinem Kopf gelandet. Bittesehr: Hier ist mein Herzkopf.“
Die Wand in Karen Köhlers Arbeitszimmer
Die Wand in Karen Köhlers Arbeitszimmer
Pressefoto
Pressefoto
Häkelmuster aus dem Schönen Dorf
Häkelmuster aus dem Schönen Dorf
Umgesetzte Häkelei
Umgesetzte Häkelei
Porträt
Porträt
Die Insel
Die Insel
Alinas Schrift
Alinas Schrift
Stickerei
Stickerei
Karen Köhler liest bei zehnSeiten aus „Miroloi“.
Mit „Wir haben Raketen geangelt“ hat Karen Köhler bereits einen vielbeachteten Erzählungsband bei Hanser veröffentlicht, letzten Dezember dann schickte sie das Manuskript ihres ersten Romans an den Verlag. Und nahm gleich darauf mit ihrem Lektor Florian Kessler diese Podcast-Folge auf. Karen war dazu per Skype zugeschaltet, es gab Rotwein und es wurde über alles Mögliche gesprochen, von der Herausforderung, ein zweites Buch zu veröffentlichen bis zum Ankommen im Literaturbetrieb. Karen erzählt, was Geschichtenerzählen für sie bedeutet, welche Fragen mit ihrem Selbstverständnis vom Autorinsein einhergehen und weshalb dringend mehr weibliche Stimmen in der Literatur gebraucht werden. Sie erklärt, warum sie in intensiven Schreibphasen zum Roboter wird und hin und wieder Angst vor der Literaturpolizei hat. Und hat außerdem zwei Buchempfehlungen im Gepäck, die man nach ihren leidenschaftlichen Worten sofort selbst lesen möchte.
2020 wurde "Miroloi" zu einem der schönsten Deutschen Bücher des Jahres gewählt.
Ab August 2019 geht Karen Köhler auf große Lesereise in Deutschland und Österreich, um ihren Roman Miroloi vorzustellen.
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