Buch
Deutschland 26,00 €
Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken – nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich – und zugleich ihre Rettung. Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung.
Das Hörbuch zu “Young Mungo” wird gelesen von Julian Horeyseck und erscheint bei Argon.
Details
Ungekürzte Lesung
25 € (UVP)
ISBN: 978-3-7324-0772-9
Als sie zur Ecke kamen, blieb Mungo stehen und schüttelte die Hand des Mannes von seiner Schulter. Die Entschlossenheit der Geste überraschte alle. Mungo drehte sich um, und als er zum Fenster heraufsah, begannen seine Augen nervös zu zucken. Seine Mutter beobachtete ihn durch die Ähren des Gardinenmusters und versuchte sich einzureden, der Tic wäre ein fröhliches Blinzeln, ein liebevoller Morsecode, mit dem er ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war. O.k. So war er, ihr jüngster Sohn. Er lächelte, selbst wenn ihm nicht danach war. Er würde alles tun, um andere glücklich zu machen.
Mo-Maw schob die Gardine zur Seite und stützte sich auf die Fensterbank wie eine Frau, die Gesellschaft suchte. Sie hob mit einer Hand die Teetasse und trommelte mit den perlmuttrosa Fingernägeln der anderen an die Scheibe. Sie hatte sich für die Farbe entschieden, weil sie ihre Finger frischer aussehen ließ, und wenn ihre Hände jünger wirkten, dann vielleicht auch ihr Gesicht und der Rest von ihr. Als sie zu Mungo hinabsah, drehte er sich ein Stück weiter und seine Fußspitzen zeigten nach Hause. Sie wedelte mit den lackierten Fingern und scheuchte ihn fort. Geh schon!
Ihr Junge ließ die Schultern hängen, der Rucksack auf seinem Rücken sah aus wie ein kleiner Buckel. Weil er nicht gewusst hatte, was er mitnehmen sollte, hatte er lauter nutzloses Zeug eingepackt: einen zu großen Fair-Isle-Pullover, Teebeutel, sein zerfleddertes Skizzenbuch und ein paar fast leere Tuben Salbe. Jetzt stand er an der Ecke, als würde ihn der Rucksack rücklings in den Rinnstein ziehen. Doch Mo-Maw wusste, es war nicht der Rucksack, der zu schwer war. Sie wusste, es waren seine Knochen.
Das Ganze diente seinem Wohl, und er wagte es, mit diesem leidenden Blick zu ihr heraufzusehen. Es war zu heiß für sein Gedöns. Er raubte ihr noch den letzten Nerv. Geh schon!, formte sie wieder mit den Lippen und trank einen Schluck kalten Tee.
Die beiden Männer warteten an der Ecke. Sie tauschten einen Seufzer und einen Blick und ein Grinsen, bevor sie ihr Gepäck absetzten und sich eine Zigarette anzündeten. Mo-Maw merkte ihnen an, dass sie es eilig hatten – fremde Gesichter waren in den engen Straßen nicht gern gesehen –, und sie sah, dass sie sich zusammenreißen mussten, um ihren Jungen nicht zu hetzen. Doch die Männer waren schlau genug, Mungo keinen Druck zu machen, noch nicht, nicht, solange er noch abhauen konnte. Mit verkniffenen Augen warfen sie ihm Blicke zu, beobachtend, abwartend, was er als Nächstes tat, während sie die Hände in die Hosentaschen schoben und sich den Sack von den Schenkeln pulten. Vor ihnen lag ein stickiger, schwüler Tag. Der Jüngere fingerte sich im Schritt herum. Mo-Maw leckte an der Rückseite ihrer Zähne. Mungo hob die Hand, um zu winken, aber Mo-Maw warf ihm einen finsteren Blick zu. Offenbar hatte er gesehen, wie sie die Miene verzog, oder das Winken kam ihm plötzlich kindisch vor, denn er brach die Geste ab und griff in die Luft wie ein Ertrinkender.
In den weiten Shorts und der übergroßen Regenjacke wirkte er wie ein Straßenkind in Kleidern von der Heilsarmee. Doch als er sich die Wolke der Locken aus dem Gesicht strich, sah Mo-Maw, wie er die Zähne zusammenbiss, und erkannte den willensstarken jungen Mann, zu dem er heranwuchs. Sie klopfte noch einmal an die Scheibe. Guck mich nicht so böse an. Der jüngere der Männer trat vor und legte den Arm um Mungos Schultern. Mungo zuckte unter dem Gewicht zusammen. Mo-Maw sah, wie er sich die Seite rieb, und dachte an die violetten Blutergüsse, die auf seinen Rippen blühten. Sie klopfte an die Scheibe: Mein Gott, jetzt hau schon ab! Endlich senkte ihr Sohn den Blick und ließ sich wegführen. Die Männer lachten, als sie dem Jungen auf die Schulter klopften. Braver Kerl. Guter Kerl.
Sie haben “Shuggie Bain” in der deutschen Übersetzung von Sophie Zeitz bereits gelesen – und sind begeistert: Buchhändler Christian Dunker, Schauspielerin Friederike Kempter, Autorin Deniz Ohde, Buchbloggerin Anne Sauer, Autor Daniel Schreiber, Buchblogger Kai Spellmeier, Buchhändlerin Kathi Uslar, Autorin Stefanie de Velasco und Schauspieler und Sprecher des Hörbuchs Mark Waschke.
Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt – und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit, grandios übersetzt von Sophie Zeitz.
»In der Art und Weise, wie Douglas Stuart den Umgang mit unterdrückten Sehnsüchten oder mit Homosexualität schildert, liegt für mich eine ganz große utopische Kraft.«
Das Hörbuch zu »Shuggie Bain« wird von Mark Waschke gelesen und erscheint bei Hörbuch Hamburg.
Details
Ungekürzte Lesung
VÖ: 30.08.2021 | 3 MP3-CDs
26 € (UVP)
ISBN 978-3-86952-520-4
Agnes Bain drückte die Zehen in den Teppich und lehnte sich, so weit es ging, in die Nachtluft hinaus. Feuchter Wind liebkoste ihren heißen Nacken und fuhr in ihr Kleid. Er fühlte sich an wie die Hand eines Fremden, ein Lebenszeichen, eine Erinnerung an das Leben. Sie schnippte die Zigarettenkippe weg und sah der leuchtenden Glut hinterher, die sechzehn Stockwerke nach unten auf den dunklen Vorplatz tanzte. Agnes wollte der Stadt ihr weinrotes Samtkleid zeigen. Sie wollte von Fremden beneidet werden, wollte mit Männern tanzen, die sie stolz an sich drückten. Aber vor allem wollte sie was trinken und sich ein bisschen amüsieren. Mit gestreckten Waden drückte sie die Hüfte gegen den Fensterrahmen, verlagerte den Schwerpunkt, nahm alles Gewicht von den Zehen.
Ihr Körper kippte nach vorn zu den gelben Lichtern der Stadt, und in ihre Wangen strömte Blut. Sie streckte die Arme nach den Lichtern aus, und einen kurzen Moment lang konnte sie fliegen. Niemand achtete auf die fliegende Frau. Sie spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien.
Neununddreißig und mit ihrem Mann und ihren drei Kindern, von denen zwei schon fast erwachsen waren, in Mammys Wohnung eingepfercht, es war ein Gefühl, als wäre sie gescheitert. Er, ihr Mann, der, wenn er da war, an der äußersten Bettkante zu liegen schien, machte sie wütend mit seinen hingeworfenen Versprechen eines besseren Lebens. Agnes wollte das alles hier hinter sich bringen, das ganze Zeug wegkratzen wie alte Tapeten. Sie wollte die Fingernägel darunterschieben und alles abreißen.
Gelangweilt ließ sich Agnes in das muffige Zimmer zurückfallen und spürte wieder Mammys sicheren Teppich unter den Füßen. Die anderen hatten nicht einmal aufgesehen. Lustlos ließ sie die Nadel über den Plattenteller schrammen. Sie griff sich ins Haar und drehte die Lautstärke auf. »Ach, kommt schon, bitte, nur einen kleinen Tanz?«
»Tschut, nich jetz«, zischte Nan Flannigan. Fieberhaft sortierte sie ihre Silber und Kupfermünzen zu ordentlichen Türmen. »Ich wollt euch grad anschaffen schicken.«
Reeny Sweeny verdrehte die Augen und drückte ihre Karten an sich.
»Du hast ne schmutzige Fantasie!«
»Nich dasser sagt, ich hätt euch nich gewahnt.«
Nan biss in ein Stück Backfisch und leckte sich das Fett von den Lippen. »Wenn ich euch mitte Kahten hier dat Haushaltsgeld abgeknöppt hab, müsster heim und das olle Suppenhuhn vögeln, dasser Ehemann nennt, damitter was zu beißen kriegt.«
»Keine Chance!« Reeny bekreuzigte sich träge. »Den lass ich seit Aschermittwoch nich ran, und ich habs auch bis Weihnachten nich vor.«
Sie schob sich eine dicke, goldene Fritte in den Mund. »Habma mal so lang dichtgehalten, bissichn neuen Farbfernseher fürs Schlafzimmer gekriegt hab.«
Die Frauen gackerten, ohne sich von ihren Karten ablenken zu lassen.
Es war schwül und stickig im Wohnzimmer. Agnes sah zu, wie Little Lizzie, ihre Mammy, ihr Blatt studierte, der Koloss von Nan Flannigan auf der einen Seite und Reeny Sweeny auf der anderen. Die Frauen saßen Schenkel an Schenkel und verputzten die letzten Reste der Fish ’n’Chips.
Mit fettigen Fingern verschoben sie Münzen und klatschten Karten auf den Tisch. Ann Marie Easton, die jüngste von ihnen, war damit beschäftigt, aus dem losen Tabak in ihrem Schoß übel aussehende Zigaretten zu rollen. Die Frauen hatten ihr Haushaltsgeld auf dem niedrigen Teetisch ausgeleert und schoben die Fünf und ZehnPenceEinsätze hin und her.
Es langweilte Agnes. Früher, vor den ausgebeulten Strickjacken und den ausgemergelten Ehemännern, hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie alle mit zum Tanzen geschleppt. Als junge Dinger hatten sie aneinandergehangen wie eine Schnur Perlen und den ganzen Weg runter zur Sauchiehall Street aus vollem Hals gesungen. Sie waren noch minderjährig, aber Agnes hatte schon mit fünfzehn genug Selbstbewusstsein gehabt, um sie alle reinzukriegen. Die Türsteher hatten Agnes immer am Ende der Schlange funkeln sehen und nach vorn gewinkt, und sie hatte die anderen Mädels mitgezogen, als wären sie aneinandergekettet. Die Mädchen hatten sich an Agnes’ Gürtel festgehalten und leise protestiert,
aber Agnes hatte den Türstehern ihr bestes Lächeln geschenkt, das Lächeln, das sie für Männer reservierte, das Lächeln, das sie vor ihrer Mutter geheim hielt. Wie gerne sie damals ihr Lächeln verteilt hatte. Sie hatte die Zähne von ihrem Vater geerbt, und die Campbell-Zähne waren immer schlecht gewesen, ein Grund zur Demut in einem sonst schönen Gesicht. Ihre bleibenden Zähne waren klein und krumm herausgekommen, von Anfang an nie weiß gewesen, vom Rauchen und von Lizzies starkem Tee. Mit fünfzehn hatte Agnes ihre Mutter angefleht, sie sich
alle ziehen lassen zu dürfen. Dass die falschen Zähne drückten, war ein kleiner Preis für das Filmstarlächeln, das ihr das Gebiss vermeintlich verlieh. Jeder Zahn breit und gleichmäßig und so kerzengerade wie die von Liz Taylor.
Agnes saugte an ihren Porzellanzähnen. Und jetzt hockten sie hier, jeden Freitagabend dieselben Frauen, und spielten bei ihrer Mutter im
Wohnzimmer Karten. Kein Strich Makeup in der ganzen Runde. Heute war keiner von ihnen mehr nach Singen.
Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitet. Seine Texte erschienen im New Yorker und auf Literary Hub. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, wurde er mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet. 2023 erschien sein zweiter Roman Young Mungo
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