Buch
Deutschland 24,00 €
Ein mitreißender Roman über eine Flugpionierin im Berlin der wilden zwanziger Jahre: Als der Arzt Nelly B. eröffnet, dass sie wegen eines Herzleidens nicht mehr fliegen darf, bricht für sie eine Welt zusammen. Als erste Frau in Deutschland hat sie den Pilotenschein gemacht und mit ihrem Mann eine Flugschule geleitet. Sie verlässt Paul, findet eine Stelle bei BMW, wo sie Motorräder verkauft, nimmt Quartier bei einer Berliner Zimmerwirtin und trifft die viel jüngere Irma, in die sie sich rettungslos verliebt. Aris Fioretos erzählt die Geschichte einer modernen, emanzipierten Frau und einer großen, tragischen Liebe. Aus einem aufregenden Leben wird große Literatur.
Details zum Buch
aus dem Schwedischen von Paul Berf
336 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26560-8
Deutschland: 24,00 €
Österreich: 24,70 €
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-26662-9
E-Book Deutschland: 17,99 €
»Ein Mensch kann auf einen Lungenflügel und eine Niere verzichten. Ein Teil der Leber lässt sich durch einen chirurgischen Eingriff entfernen, manche sind mit dem halben Magen ausgekommen.« Erwin Rosenblatt wusch sich die Hände am Becken. »Ein Organ ist jedoch unverzichtbar, Nelly. Entweder es funktioniert oder nicht.« Ich könne meine Bluse zuknöpfen, die Untersuchung sei beendet. Er setzte sich an den Schreibtisch, schlug mit dem Stift gegen seine Zähne. Das Sonnenlicht fiel wie goldener Puder auf die Instrumente, unter anderem das Sphygmomanometer, das er um meinen Arm geschlungen hatte. »Alles deutet auf eine Kardiomyopathie hin.«
Bei den Flügen des letzten Jahres war mir häufig schwindlig geworden. Ich glaubte, es läge am Schlafmangel, da wir uns ständig stritten und ich selten mehr als ein paar Stunden ungestört schlief.
Doch als sich eines Tages der Werkstattboden in Wasser verwandelte und alles zu fließen begann, zwang mein Mann mich, einen Arzt aufzusuchen. Zunächst ging ich zu Cassirer, der mir im Krieg bei meinen Problemen mit den Nerven geholfen hatte. Er meinte, es handele sich um die alten Spannungen und dass ich endlich etwas dagegen tun müsse; dem Doktor zufolge, den ich danach um Rat fragte, litt ich an zu niedrigem Blutdruck. Schließlich bekam ich einen Termin bei Rosenblatt, einem Spezialisten. Er war in dieselbe Klasse gegangen wie mein Stiefbruder Eduard und empfing mich im Miséricorde.
»Kardio-was?«
»Myopathie.«
Rosenblatt legte eine haarige Hand auf die Brust. »Hypertrophe Kardiomyopathie, um genau zu sein. Die Wände verdicken sich, das Blut wird immer schlechter mit Sauerstoff versorgt. Am Ende fehlt dem Herzen die Kraft.«
Möglicherweise litte ich an einer angeborenen Fehlbildung. Das würde den niedrigen Blutdruck erklären, der nicht lebensbedrohlich sein müsse. Häufig reichten Ruhe, Gymnastik, gesunde Ernährung – solche Dinge. Wenn die Nervosität jedoch in Schwindel übergehe und das Gleichgewicht, die Balance, beeinflusst werde wie jetzt, sei Vorsicht geboten.
»Habt ihr Kinder? Nein? Manchmal werden sie mit bläulicher Haut geboren. Die Franzosen sprechen von la maladie bleue.« Rosenblatt sah Paul an, als verstünde mein Mann ihn besser, weil er aus Marseille stammt. »Der Hämoglobinmangel verfärbt die Haut. Wenngleich Zyanose auch bei Erwachsenen vorkommt. Häufigste Ursache ist Unterkühlung, ›Spannungen‹ tragen dazu bei …« Er schrieb mit zwei Paar Fingern Anführungszeichen in die Luft und erkundigte sich, ob mein Nervenarzt noch mehr gesagt habe. Ich hatte keine Lust, die Tintenkleckse zu erwähnen, die Cassirer mir regelmäßig gezeigt hatte, oder das, was er Inklinationen nannte, also schwieg ich.
Rosenblatt öffnete und schloss, öffnete und schloss die Faust. »Wir haben es mit einem Muskel zu tun. Die Verdickung der Herzwände verursacht Atemnot, außerdem können Arhythmien auftreten. Deshalb spreche ich von einem verzerrten Herzen – oder cœur distordu, vornehm ausgedrückt.« Er lächelte. Vermutlich wäre ich nicht ohnmächtig geworden, meinte er, wenn ich an einem anderen Ort als Johannisthal arbeitete. Aber in Kombination mit meiner Natur verschlimmere sich mein Zustand in dünnen Luftschichten. In Zukunft wäre es klug, große Höhen zu meiden.
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Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016) und Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen – er übertrug u. a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette Schocken Preis – Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.
Wegen eines Herzleidens darf Nelly B. nicht mehr fliegen. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt. Da lernt sie die 14 Jahre jüngere Irma kennen und verliebt sich leidenschaftlich in sie. Lieber Aris, erwächst diese Liebe aus der Verzweiflung? Eher aus einer Verzweiflung hinter der Verzweiflung. Nelly hat immer schon geahnt, dass sie zu den „Veilchenfrauen“, wie es an einer Stelle heißt, gehört – also zu denen, die sich zu anderen Frauen hingezogen fühlen. Aber um sich ihrer großen Leidenschaft, dem Fliegen, widmen zu können, stellt sie andere Bedürfnisse hintenan. Sie heiratet sogar einen Kollegen, den französischen Ingenieur Paul Boulard. Als der Roman im Spätsommer 1923 mit der Diagnose von Nellys „verstauchtem Herzen“ einsetzt, fängt ihr Leben auf der Erde an. Nach dem Fall vom Himmel beginnt das Aufsteigen des Begehrens.
In einer Schlussbemerkung zum Roman verrätst du, dass es eine gewisse historische Anknüpfung an Melli Beese gibt, die als erste Frau in Deutschland den Pilotenschein erwarb und später zusammen mit ihrem Mann eine Flugschule leitete. Über das Jahr 1925, Melli Beeses letztes Lebensjahr, weiß man wenig. War das die Gelegenheit für den Roman? Ich versuche es zu vermeiden, als Trittbrettfahrer der Schicksale historischer Menschen durch die Literatur zu sausen. Es fühlt sich fast unethisch an. Kostümfilme auf Papier dürften das Letzte sein, was unsere Bibliotheken brauchen. Worin liegt die Pointe, wenn ein Roman versucht, das, was wir bereits über eine Gestalt oder Epoche wissen, zu bestätigen? Mir geht es darum, mit Hilfe fiktiver Prosa die Triebkräfte des Menschen zu untersuchen. Dazu kann ein einzelnes Haar reichen. Es enthält ja genügend DNA, um eine neue Gestalt zu erschaffen – eine mögliche Person. Mary Shelley sprach einst von der „schmutzigen Werkstatt der Schöpfung“. So betrachte ich die Romankunst. Sie ist ein Erkenntnislabor.
Das Berlin der zwanziger Jahre wird im Roman mit großer Anschaulichkeit evoziert. Was hat dich an dieser Zeit und diesem Schauplatz vor allem interessiert? Über die beiden letzten Jahren im Leben Melli Beeses – von der Scheidung 1923 bis zum Selbstmord 1925 – ist kaum etwas nachweisbar. Diese unbekannte Zeit war alles, was ich brauchte; sie ließ mich frei atmen.
Ich glaube, Autoren können – vereinfacht ausgedrückt – in zwei Gruppen eingeteilt werden. Auf der einen Seite gibt es solche, die um die Schmerzpunkte im eigenen Leben kreisen. Der norwegische Autor, der tausende von Seiten dem symbolischen Vatermord, der realen Kinderbetreuung und der nicht weniger faktischen Ehetrennung gewidmet hat, wäre hierfür ein gutes Beispiel. Auf der anderen Seite gibt es Autoren, die sich eher zum Andersartigen hingezogen fühlen. Ich gehöre vermutlich der letzteren Gruppe an. Keine ist besser als die andere. Mich interessiert das Wörtchen „Ich“ einfach mehr im Mund von Fremden.
Mein letzter Roman, Mary, handelte von Schwangerschaft. Zwar habe ich eine Tochter, aber ich habe sie ja nicht selber geboren. In Nelly B.s Herz wollte ich die Liebe zwischen Frauen schildern.
Literatur, die nur aus dem, was sie weiß, gefühlt oder selber erlebt hat oder erleben könnte – kurz: dem Eigenen – besteht, macht sich freiwillig arm. Ich kann nicht sagen, warum ich mich als Autor den Erlebnissen anderer zugeneigt fühle. Aber ich habe gemerkt, dass sich das Schreiben dadurch in eine Art Erkundung verwandelt. Im besten Falle färbt der Reiz des Neuen auf den Text ab.
Man merkt, du hast die historischen Details – bis hin zur Zigarettenmarke Salem Aleikum – sehr genau recherchiert. Wie bist du dabei vorgegangen? Auch wenn ein Roman sich alles erlauben kann, was in seinem Zusammenhang sinnvoll ist – Fiktion hat ja weniger mit Wahrheit zu tun, als sie in sich stimmig sein sollte –, lese ich persönlich nicht gern von Personen, die etwa in vordigitaler Zeit mit Handys hantieren. Abweichungen von den realen Verhältnissen sollten motiviert sein, sonst verliert der Autor mein Vertrauen.
Nelly B.s Herz schließt an zwei unabhängige frühere Romane von mir an, die auch in den zwanziger Jahren spielen. Mich reizt diese Zeit unter anderem, weil in ihr ein neues Menschenbild entsteht. In der Tat sprach man damals vom „neuen Menschen“. Die Errungenschaften der damaligen Medizin waren hier prägend. Gerade habe ich dazu in Schweden ein Monster von einem Buch mit dem Titel Atlas veröffentlicht. Auf fast 500 Seiten und anhand von 600 Bildern versucht es vieles von dem, was in den drei Romanen nur zwischen den Zeilen steht, zu beleuchten. Anhand einer Reihe von „Fallstudien“ (vulgo: Kurzgeschichten) geht es um Eros, Gänsehaut, Schwindel und vieles mehr. Darunter eben auch das Rauchen. Hugo Zietz‘ „orientalische Tabak- und Zigarettenfabrik“ Yenidze in Dresden, wo Salem Aleikum produziert wurde, spielt hier eine Rolle, genauso wie Szlama Rochmanns Tabakfirma in der Greifswalder Straße in Berlin, wo man die Marke Moslem herstellte. Der tolle Rauchring auf der Schachtel, der um die eine Spitze des Ms hängt, ist nur ein flüchtiges Detail. Aber in meinen Büchern bekommen Details rasch eine zusätzliche Bedeutung. Was wäre die Literatur ohne die Liebe zu Einzelheiten, Winzigkeiten, das beinahe Übersehene?
Nelly B.s Herz besteht aus 100 Kurzkapiteln, aber es liest sich wie ein durchgeschriebener Roman. Wie gehst du bei der Arbeit vor? Schreibst du die Kapitel so hintereinander, wie wir sie lesen? Oder arbeitest du thematische Komplexe heraus (z.B. die Pension Colding in Steglitz, wo Nelly zusammen mit anderen Figuren wohnt) und bestimmst die Reihenfolge der Szenen später? Ich mache mir – Hand aufs Herz – nicht allzu viele Gedanken über den Vorgang. Meistens wird erst allmählich klar, wie die geheime Architektur eines Buchs aussieht. Gut möglich, dass meine Romane wie Eiszapfen entstehen. Ich schreibe nicht nur, ich schreibe vor allem immer wieder um. So gelange ich jedes Mal ein klein wenig weiter in den Text hinein. Oder um im Bild zu bleiben: Mit jeder neuen Schicht wird der Eiszapfen länger. Die Gefahr dabei ist, dass der Anfang zu umfangreich wird, das Ende zu dünn und spröde. Aber wenn diese Faute-de-mieux -Methode klappt, lassen sich die einzelnen Schichten nicht mehr voneinander trennen. Der Text wird durchsichtig und dennoch fest. Persönlich mag ich Romane, die zum Ende hin stetig pointierter werden, in denen die Gedanken, Triebe und Gefühle enggeführt werden.
Amelie Hedwig Boutard-Beese (1886-1925), vielen als Melli Beese bekannt, war die erste deutsche Pilotin. In Laubegast bei Dresden geboren, erhielt sie als erste Frau in Deutschland eine Flugzeugführerlizenz.
Bevor sie sich ihrem großen Traum vom Fliegen widmete, studierte Melli drei Jahre an der Königlichen Akademie der Freien Künste in Stockholm Bildhauerei. Danach unterhielt sie verschiedene Ateliers, bevor sie Vorlesungen in Mathematik, Schiffsbau und Flugtechnik & -mechanik am Polytechnikum Dresden besuchte.
Doch auf der Suche nach einer geeigneten Flugschule bekam Melli die Frauenfeindlichkeit der Flugwelt zu spüren: Zahlreiche Betriebe lehnten sie aufgrund der Tatsache ab, dass sie eine Frau war. Die Ad Astra Fluggesellschaft in Johannisthal bei Berlin nahm sie schließlich als Schülerin auf. Nach einem Absturz weigerte sich ihr Fluglehrer Robert Thelen allerdings, sie weiterhin zu unterrichten. Trotz mangelnder Flugpraxis meldete Melli sich im folgenden Jahr zur Flugprüfung an. Da ihre männlichen Kollegen jedoch ihren Benzintank sabotierten, scheiterte sie beim ersten Versuch. An ihrem 25. Geburtstag aber hielt sie schließlich als erste Frau einen Flugschein (Nr. 115) in den Händen.
In den Jahren darauf stellte sie auf Flugschauen mehrere Rekorde auf. 1912 gründete sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Hermann Reichelt und ihrem späteren Ehemann Charles Boutard ihre eigene Flugschule. Fast zeitgleich eröffnete sie eine Flugzeugfabrik, in der sie unter anderem ein Flugboot entwarf und baute. Bis 1914 meldete sie außerdem Patent für ein „zerlegbares“ Flugzeug und einen einsitzigen Leichtflieger an.
Bei ihrer Eheschließung mit Charles im Jahr 1913 nahm Melli seine französische Staatsbürgerschaft an und wurde, als Charles in Holzminden interniert wurde, während des Ersten Weltkrieges unter Hausarrest gestellt. Nach Charles‘ Rückkehr 1917 stand das Ehepaar vor dem finanziellen Ruin. Genötigt, die Flugschule zu schließen, wollten sie sich wenigstens noch einen Wunsch erfüllen und planten einen Flug um die Welt. Bei einem Probeflug im Dezember 1925 jedoch stürzte Melli ab und obwohl sie wie durch ein Wunder unverletzt blieb, mussten sie die Weltreise auch zwecks unzureichender Finanzierung absagen.
Daraufhin fiel Melli, die zu diesem Zeitpunkt außerdem bereits getrennt von ihrem Mann lebte, in eine tiefe Depression.
Quelle:
Heike Wolter, Beese (verh. Beese-Boutard), Amelie Hedwig (gen. Melli), in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/
Die folgenden Texte wurden aus Aris Fioretos’ Atlas (Stockholm 2019) entnommen. Darin kommentiert Iris Frost, eine von Aris Fioretos erfundene pensionierte Archivarin aus Stockholm, ihre Aufzeichnungen und Kommentare zu Nelly B.s Herz. Eines Abends wurde sie beim gemütlichen Beisammensein im Pflegeheim auf Fioretos’ Romane aufmerksam und ließ sie sich von einer Pflegerin besorgen, darunter auch Nelly B.s Herz. Nach der Lektüre war sie verwirrt und fasziniert zugleich: Wie konnte der Autor Fakt und Fiktion so miteinander vermengen? Sie beschloss, den Roman zu kommentieren, die historischen Begebenheiten zu recherchieren und die Biografien der Figuren weiter auszuführen. Dies ist ein Auszug aus ihren fiktiven Anmerkungen.
Nelly kommt ins Taumeln.
Solange sie und Paul um ihr Überleben kämpften, war Nelly nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für ihre Ehe, die Schule und die Modelle künftiger Flugzeuge. Sie konnte ihren Mann nicht im Stich lassen, ehe sie ihr Flugzeug zurückhatten und Paul genesen war. Fliegen tut not, leben tut nicht not.
Als sich an einem Sommertag 1924 der Werkstattboden in Wasser verwandelte und Nelly zusammenbrach, begriff sie, dass sie etwas unternehmen musste. Sie kehrte zu Cassirer zurück, aber der Arzt wirkte zerstreut und riet ihr, das Notwendige zu tun – was immer das hieß. Möglicherweise hatte er Recht, aber jetzt hatten die Symptome eine physiologische Ursache. Nelly wusste besser als jeder andere, dass sich ihr Herz nicht so aufführte, wie es sollte. Wenn der Muskel weitere vierzig Jahre halten sollte, reichte es nicht, darüber zu reden, was an einem Wintertag in Schweden passiert war, oder Tintenflecken so schön wie Bettpfannen zu deuten. Ihr Problem waren nicht die Nerven.
Ein halbes Jahr später lebte Nelly getrennt von ihrem Ehemann. Der Kardiologe Erwin Rosenblatt hatte ihr nach dem Abschluss ihrer Untersuchung eingeschärft, dass sie nur ein Leben habe, und sie dazu gebracht, sich zu entscheiden. Jetzt arbeitete sie in einer BMW-Filiale am Kaiserdamm. Im Dezember eröffnete die Automobilmesse in den neuen Hallen im Westend, wo bald der Funkturm – der skelettgleiche Radioturm der Stadt – hochgezogen werden würde. Kurz bevor sie am ersten Abend schließen wollten, steckte eine unbekannte Frau Nellys Motorradhandschuhe ein. Nelly, die die Kupplung einer BMW R32 demonstrierte, vermisste sie aber erst später. Ebenso wenig konnte sie mit Sicherheit sagen, ob die Unbekannte dies tat, damit sie in Kontakt miteinander blieben.
Am Donnerstag vor Weihnachten 1924 ging sie in die Werbeagentur, in der die Frau arbeitete. Noch wusste sie nicht, dass sie Irma Maak hieß und vierundzwanzig Jahre alt war, nur dass sie einer Wachskerze glich, als sie ihre Arbeitskollegen, die auf dem Weg zum Ausgang waren, eingeholt hatte. Das Wetter war mild, aber etwas in ihrem Inneren zog sich zusammen. Die Autos, die Bäume, selbst eine junge Mutter, die einen Kinderwagen breit genug für zwei schob – alles erschien kleiner und schärfer zugleich. Die Kälte mag diese Eigenart an sich haben. Sie machte alles ein bisschen kleiner, aber spendete Schärfe und Konturen. Im Sommer bemerkte man die dicken Menschen, im Winter fielen einem die Schlanken ins Auge. Nelly ging einen Schritt beiseite, um die Frau mit den Zwillingen vorbeizulassen – und kam ins Taumeln. Ein paar Meter stolperte sie den Bürgersteig entlang, danach fand sie erneut ihre Balance.
Diese Unstetigkeit füllte sie mit Freude. Sie merkte, dass sie bereit war für das Schlimmste und das Beste, was das Leben bieten zu hatte. Solange eine Neigung von etwas anderem aufgewogen wurde, war dieses Kitzeln in ihren Adern alles, was sie brauchte – ein perpetuum mobile, angetrieben durch Sauerstoff und Erwartung. Endlich stand Nelly zu ihrer Inklination.
Während des Sommers 1925 war die Pension Colding in der Friedrichsruher Straße 30 in Steglitz im Südwesten von Berlin vollbelegt. Auch Nelly B. bewohnte eines der Zimmer im 2. Obergeschoss des Hauses.
1. Meine wichtigste Tugend?
Ausdauer. Sie macht mich im Augenblick verrückt.
2. Welche Eigenschaft schätze ich bei einem Mann am meisten?
Gelten Handflächen? Wenn ja: groß und trocken, warm und beruhigend.
3. Welche Eigenschaft schätze ich bei einer Frau am meisten?
Gibt es etwas, was einem nicht gefallen könnte?
4. Mein Hauptcharakterzug?
Dass ich mich selbst nicht kenne.
5. Was schätze ich bei meinen Freunden am meisten?
Definiere „Freund“!
6. Meine größte Schwäche?
Manchmal wiegt jedes Kilo 1400 Gramm.
7. Meine Lieblingsbeschäftigung?
Privatunterricht in Englisch.
8. Mein Traum vom Glück?
Einfach: Fünf Uhr. Und ‚sweetness‘.
9. Was wäre mein größtes Unglück?
Dass sie nicht kommt.
10. Wer wäre ich am liebsten?
Sie, die nicht Angst davor haben muss, dass sie nicht kommt. (Das Pronomen zeigt, wie es schwer ist, uns auseinander zu halten)
11. Das Land, in dem ich am liebsten leben würde?
Zählt der Himmel? (Andernfalls: auf einem Ponton im Wannsee)
12. Meine Lieblingsfarbe?
Das, was die Franzosen, ‚gris de lin‘ nennen.
13. Meine Lieblingsblume?
‚Linum usitatissiumum‘, glaube ich. Und Spreublumen. Ähm, wem mache ich etwas vor? Es ist natürlich das Pfingstveilchen.
14. Mein Lieblingsvogel?
Ich liebes alles und alle, die fliegen.
15. Mein Lieblingsschriftsteller?
A.E. Weirauch?
16. Mein Lieblingsdichter?
Der große Rigoberto. Bilitis.
17. Meine Helden in der Literatur?
Ikarus.
18. Meine Heldinnen in der Literatur?
Artemis, Pandora und Antigone. Penthesilea. Ich kann immer weitermachen. Carmilla und Laura. Effi Briest. Metta?
19. Mein Lieblingskomponist?
Debussy. Und wer auch immer die Musik für ‚Der letzten Mann‘ geschrieben hat.
20. Mein Lieblingskünstler?
Niemand spezielles. Aber ich habe Zeichnungen im Modemagazin gesehen, die mir gefallen. Die Illustratorin heißt Mammen – Jeannette oder Henriette, glaube ich. Etwas in der Art.
21. Meine Helden im wirklichen Leben?
Jean-François Champollion. Marie Curie. Alfred Pietschker.
22. Meine historischen Heldinnen?
Zwei Schwedinnen: Königin Kristina und Elsa Andersson.
23. Was trinke und esse ich am liebsten?
Trinken: Heiße Zitrone. Essen: Pfirsichmarmelade.
24. Mein Lieblingsname?
Irma. (Danach: Mari und Mira.) (Sowie mit einem gewissen Abstand: Amir und Rami.)
25. Das mag ich am wenigsten?
Zufall. Gegenwind. Regenwolken.
26. Historische Person, die ich am meisten verabscheue?
Zählt Prokrustes?
27. Das militärische Ereignis, das ich am meisten schätze?
Den Frieden von Versailles.
28. Die Reform, die ich am meisten wertschätze?
In unserem Land: Das Frauenwahlrecht 1919.
29. Eine Gabe, ein Naturtalent, das ich mir wünschen würde?
Mehr HAUT.
30. Wie will ich sterben?
Erquickt.
31. Meine derzeitige Gemütsverfassung?
Trüb.
32. Bei welchem Defizit bin ich am nachsichtigsten?
Irma.
Mein Motto?
Sealed tight, kept right, the flavor lasts.
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