5 Fragen an …
Karen Köhler, Sie haben 2014 mit Wir haben Raketen geangelt mit einem Band mit Kurzgeschichten debütiert – und veröffentlichen jetzt einen weit über vierhundertseitigen Roman: Miroloi. Das war bestimmt ein völlig anderes Schreiben, nicht?
Na klar, es war ganz anders. Man schiebt jahrelang diese Textbugwelle vor sich her, kämpft, zweifelt und erschöpft sich, weil einem das Gefühl, etwas abgeschlossen zu haben, sehr lange verwehrt bleibt. Das war bei den Erzählungen anders, ich habe sie nach und nach geschrieben und immer die Zwischendurchbelohnung des Fertigseins bekommen. Erzählungen haben zudem mehr Tempo, springen in eine Situation rein, man bekommt beim Schreiben schneller einen Überblick, die Personage ist kleiner. Miroloi hingegen ist viel ruhiger aufgebaut … Ich weiß ja auch nicht, wie das Schreiben geht, es ist mein erster Roman und eigentlich ist Miroloi ein Prokrastinationsergebnis. Ein sehr umfangreiches, zugegebenermaßen. Ich saß eigentlich an einem anderen Text und brach mir während der ersten 40 Seiten fast die Finger an der Tastatur, so langsam ging es vorwärts, so zäh war die Arbeit, ich hatte den Tonfall nicht. Und dann geisterte plötzlich diese Stimme in meinem Kopf herum, die etwas ganz anderes erzählte. Das nervte mich so, dass ich sie aufschrieb, damit sie endlich aus dem Kopf war. Drei Wochen später hatte ich 80 Seiten geschrieben. Ich war quasi links abgebogen und hatte den alten Text hinter mir gelassen.
Ich habe mich auch nicht hingesetzt und gesagt: So, jetzt schreibe ich einen Roman. Die Geschichte hat sich ihren Raum eingefordert. Sie ist so lang geworden, wie sie geworden ist.
Miroloi führt seine Leserinnen und Leser tief hinein in eine archaische Dorfwelt auf einer Insel, ein gutes Stück weg von unserer Zivilisation. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem sehr besonderen Schauplatz?
Nach den Raketen habe ich erstmal nur Theaterstücke geschrieben. Ich mag Dialoge, man kann schneller schreiben und auf aktuelle Themen schneller reagieren. Der Erfolg des Erzählbandes hat mir auch Angst gemacht vor dem zweiten Buch. Es gab Tage, Wochen, Monate, da dachte ich, ich habe nichts mehr zu sagen. Das muss ich ja vor mir selbst rechtfertigen können, dass da Bäume gefällt werden, Papier verbraucht wird für die eigene Idee. Ich war auf langer Lesereise und in dieser Zeit kam ich nicht viel zum Prosaschreiben. 2015/16 hatte ich dann eine totale Schreibkrise. Die Welt veränderte sich schneller, als ich sie verarbeiten konnte, und ich wollte weder ausweichen noch banal werden. Der Irrsinn des Krieges, des Neofaschismus, des Klimawandels, was aus Europa wurde, und das alles immer eingebettet in den Kapitalismus, in den Konsum, und der wiederum eingebettet in Selbstoptimierungsapps und Timelines, die von Werbung durchzogen sind, welche die Realität pervertiert. Dieser permanent abrufbare, nie aufhörende Informationsfluss online und das Gefühl der eigenen Ohnmacht haben bei mir zur literarischen Depression bis zum völligen Verstummen geführt. Anders als Journalist*innen, die ein Handwerk zur Verfügung haben, genau solche Veränderungen schnell aufzugreifen, braucht Literatur viel mehr Zeit. Und das journalistische Handwerkszeug besitze ich leider nicht. Dann habe ich jedenfalls über Perspektive nachgedacht. Was muss und kann von mir erzählt werden? Und habe angefangen, rauszuzoomen, weg aus meiner urbanen Lebenswirklichkeit. Und plötzlich war dann diese Stimme da … Ich wollte von einer Stellvertreter*innengesellschaft erzählen. Auf einer Insel im Mittelmeer hatte ich die perfekten geografischen Bedingungen für die Geschichte gefunden, die ich erzählen wollte, denn ich wollte unbedingt eine zivilisatorische Abgeschiedenheit beschreiben. Ich bewarb mich für das Grenzgänger-Stipendium (das ja leider abgeschafft werden soll, wie schade ist das denn bitte?), und meine Recherchen wurden gefördert. Ich habe Interviews geführt und insgesamt mehr als vier Monate vor Ort recherchiert und gearbeitet.
Warum spielt das Buch nicht einfach in unserer Gegenwart?
Es wird nie genannt, wann oder wo Miroloi genau spielt. Man könnte es aber dechiffrieren und einen Zeitraum eingrenzen, wenn man gewieft ist und die Puzzleteile zusammensetzt. Ich wollte einen Abstandhalter, um mit seiner Hilfe besser auf das Wesentliche schauen zu können.
Für Ihren Roman haben Sie Interviews geführt und die Dorfbewohner gezeichnet, über Mondphasen genauso nachgedacht wie über die Gesetzestexte der Insel … Warum mussten Sie so viele Dinge so genau wissen für den Roman?
Weil ich doch die Sachen wissen muss, die ich schreibe. Also male, webe, sticke ich sie auch. Also befrage ich Menschen, oder höre einfach nur zu. Dass wir den solaren Kalender haben, ist ja auch Teil einer Entwicklung, viele religiöse Feiertage richten sich nach dem Mond, zum Beispiel Ostern. Ich kann besser über Dinge schreiben, die ich kenne. Was ich nicht kenne, muss ich also in irgendeiner Form recherchieren und kennenlernen, es muss einmal durch mich durch, damit ich den*die Leser*in vertrauensvoll durch die Geschichte leiten kann. Ich bin ein eher dünnhäutiger Mensch, nehme sehr viel zur selben Zeit wahr und bin der Welt in einem Maße ausgesetzt, das nicht immer gesund oder heilsam ist. Ich bin meistens komplett überfordert mit den kleinsten Kleinigkeiten. Mich auf Einzelnes in Ruhe zu konzentrieren hilft mir, sicheren Tritt unter den Füßen zu haben, wenn ich schreibe.
Immer wieder geht es im Roman um nicht weniger als Freiheit, wenn die Erzählerin sich langsam aus den Konventionen ihrer Umwelt befreit. Ist Miroloi ein pessimistisches oder ein optimistisches Buch?
Für mich ist es beides. Es zeigt den Menschen in seiner abgrundtiefen Hässlichkeit. Es zeigt mir aber auch, dass es sich lohnt zu kämpfen: Für Bildung und gesichertes Wissen, für Freiheit und Unabhängigkeit, für Solidarität und Gleichberechtigung. Miroloi ist darin zeitlos, hoffe ich.