Laudatio von Katrin Hörnlein
Laudatio auf „Dazwischen: Ich“ von Julya Rabinowich zur Verleihung des Friedrich Gerstäcker Preises 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Jugendjury,
liebe Julya Rabinowich,
es ist mir eine große Ehre und Freude, heute die Laudatio zu halten. Und ich habe Ihnen etwas mitgebracht: ein Stück Seife.
Ich nehme an, Sie haben heute Morgen geduscht, sich vermutlich auch noch ein zweites Mal frisch gemacht, bevor sie den Weg hierher angetreten haben.
Nun stellen Sie sich einmal vor, Sie wären heute Morgen extra früh aufgestanden, um sich vor einem muffigen Waschraum in eine Schlange einzureihen. Doch zu viele andere durften vor Ihnen hinein. Und schließlich blockierte Ihre eigene Tante die Dusche – Ihre Tante, die sich offenbar am liebsten die eigene Haut vom Körper waschen würde, so sehr schrubbt sie daran herum.
So haben Sie vergebens gewartet und mussten schließlich ungewaschen aus dem Haus gehen. Sie riechen sich selbst und genieren sich furchtbar dafür. Und natürlich verletzen Sie die gemurmelten Worte „Die stinkt“, wenn andere an Ihnen vorbeigehen. Es ist Ihnen doch ohnehin schon peinlich, dass Sie in alten abgetragenen Kleidern herumlaufen müssen.
Und nun stellen Sie sich vor, Ihnen reicht jemand solch ein Stück Seife. Plötzlich wird dieses duftende Etwas einen großen Unterschied machen.
In dem Roman, den wir heute auszeichnen, findet sich eine kleine kugelige Rosenseife versteckt hinter einer losen Kachel in der dritten Kabine einer Mädchentoilette in irgendeiner Schule in Deutschland oder Österreich. Dort liegt sie für die 15-jährige Madina bereit – ein unscheinbarer Alltagsgegenstand, der dem Mädchen ein Stück seiner Würde zurückgibt.
Diese Seife erinnert Madina daran, dass sie nicht mehr ganz allein ist; dass sie eine Freundin hat, die ihr beisteht und für sie das Wort ergreift, bis Madina sich selbst mit Worten wehren kann.
„Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.“
Mit diesen Worten beginnt Madina, uns ihre Geschichte zu erzählen. Es ist eine Fluchtgeschichte, die vom Ankommen erzählt – und vom Fremdsein in vielerlei Gestalt:
- dem Fremdsein in der Fremde;
- einem Fremdheitsgefühl der alten, nun fernen Heimat gegenüber;
- einer Entfremdung von der eigenen Familie, die sich immer mehr an Traditionen klammert, je mehr man versucht, Teil des Neuen zu werden;
- und sogar dem Gefühl, im eigenen Körper fremd zu sein.
Madina ist mit ihren Eltern, ihrem kleinen Bruder und ihrer Tante aus der Heimat geflohen. Einer Heimat, in der Bomben fallen, und wo der Vater, weil er Verwundete im Keller verarztet hat, zum Staatsfeind erklärt wurde und um sein Leben fürchten muss.
Zu fünft quetschen sie sich in ein enges Zimmer einer Flüchtlingsunterkunft: fünf Matratzen am Boden, ein Tisch und vier Stühle. Mehr Platz ist nicht. Einer muss immer stehen.
Etwa zwei Jahre ist diese Enge nun schon Alltag für Madina.
Ein Alltag, in dem sie kaum etwas allein entscheiden darf; nicht einmal, wann sie essen möchte – geschweige denn, was es zu essen gibt. Ein Alltag, in dem sie der Schikane einer kaltherzigen Heim-Chefin ausgeliefert ist. Wo oft selbst neutrale Haushaltsseife und kratziges Toilettenpapier in den Waschräumen fehlen, und die Bewohner glücklich sind, die dreckige Treppe schrubben zu dürfen, um als Lohn das Bügeleisen benutzen zu können. Ein Alltag, in dem Madina nachts immer wieder von schreienden Menschen geweckt wird. Manchmal ist sie selbst dieser schreiende Mensch, weil sie plötzlich wieder Bomben explodieren hört, wenn in der Nähe lediglich ein Feuerwerk gezündet wird.
Und ein Alltag, zu dem der tägliche Gang zum Briefkasten gehört. Hoffend und bangend zugleich, ob endlich der Bescheid der Behörde da ist. Hoffentlich ein guter, der „schwarz auf weiß“ bescheinigt, dass die Familie Asyl bekommt. Denn das würde bedeuten: „Rechte haben. Ein echter Mensch sein mit echtem Leben.“ So sagt es Madina.
Doch noch ist kein Bescheid angekommen, noch ist das Leben ein großes Dazwischen, das zunehmend an den Nerven aller zehrt.
Der Enge und Anspannung entkommt Madina, wenn sie die Schule besucht. Hier warten zwar Gleichaltrige, die sie schief ansehen; hier wartet aber auch Laura, die sich auf wundersame Weise mit Madina angefreundet hat. Eine Freundin, die beim Ankommen hilft. Die einen Boden schafft, in dem das entwurzelte Mädchen neuen Halt finden kann.
Julya Rabinowich sagt von sich selbst, sie sei ein entwurzeltes Kind. 1970 in St. Petersburg, damals noch Leningrad, geboren, floh sie im Alter von sieben Jahren aus der Sowjetunion. Nach Israel wollte die jüdische Familie, oder in die USA. Sie blieben in Wien hängen. Wie Madina strengte sich unsere Preisträgerin als Kind ungemein an, um dazuzugehören; vor allem die Sprache wollte sie schnell lernen. Madina lässt sie es so sagen: „Ich mag es, wenn ich Dinge schaffe, die ich mir vorgenommen habe. Und wenn mir jemand blöd kommt, dass ich dem übers Maul fahren kann.“
Auf diesen persönlichen Erfahrungen ruht dieser Roman, genauso aber auf ihrer jahrelangen Arbeit als Übersetzerin. Julya Rabinowich gab vielen jungen Menschen, die in Kriegen traumatisiert wurden in Therapiegespräche eine Stimme. Und weil diese Menschen ihre eigenen, ganz persönlichen Geschichten erzählten, verwendete auch Julya Rabinowich übersetzend die erste Person Singular, das Ich. So rückten die vielen Schrecken auch an sie erschreckend nah heran. Sicherlich war das keine leichte Aufgabe – doch für diesen Roman ist es ein großes Geschenk, weil es Madina und ihren Schilderungen eine so tiefe und berührende Glaubwürdigkeit verleiht.
„Ich habe viel Glück gehabt“, sagt Madina. Ein 15-jähriges Mädchen, dessen Vater ihr den kleinen Bruder als Aufpasser an die Seite stellt; die sich geniert, weil sie nicht mal Geld hat, um ihrer besten Freundin etwas zum Geburtstag zu schenken, und die sich wie im Himmel fühlt, als sie zum ersten Mal bei McDonalds essen darf. „Ich habe viel Glück gehabt.“ Solche Sätze lassen einen demütig auf das eigene Leben blicken und zugleich mit Bewunderung auf die Stärke dieser jungen Frau.
Doch Madina schont auch uns Leser nicht. „Ich habe schon Menschen sterben sehen. So.“ Sätze wie diese knallt sie uns hin. Madina ist verzweifelt, sie ist traurig, sie ist aber vor allem auch sehr wütend. Und diese Wut verleiht ihr große Kraft.
Am Schluss wird dieses junge Mädchen die Verantwortung für die Familie übernehmen und für ihrer aller Zukunft kämpfen.
Eine starke Mädchenfigur habe Julya Rabinowich erschaffen wollen. Eine, die eine Stütze sein kann für die vielen jungen Menschen, die irgendwo ankommen und versuchen, dort heimisch zu werden. Ihnen soll dieser Roman zeigen, dass sie nicht allein sind – auch wenn sie sich oft so fühlen werden.
Zugleich ist er natürlich auch für all diejenigen, die jetzt neben den Madinas und Ramis in den Klassen sitzen. Für die Jonathans und Mayras. Vielleicht beginnen sie lesend ein bisschen zu verstehen, wie sich die Neuen fühlen müssen. So ist dieser Roman Fenster in eine fremde Welt für die einen und Spiegel der eigenen Welt für die anderen.
Erstaunlicherweise ist „Dazwischen: Ich“ Julya Rabinowichs erstes Buch für Jugendliche. Erstaunlich, weil es auf so meisterhafte Weise für ein Miteinander, für Empathie und Verständnis wirbt – und genau den richtigen Ton findet, um jugendliche Leser zu erreichen.
Wir können nicht alle Erfahrungen selbst machen, in Madinas Fall muss man sagen: Zum Glück müssen wir sie nicht machen. Madina erlebt einen Krieg, der für uns hier sehr weit weg ist. Das ist natürlich beruhigend, zugleich aber eine große Gefahr, findet Julya Rabinowich. Denn wenn Kriege zu lange zurückliegen, wenn Zeitzeugen sterben, dann verblasst möglicherweise auch die Erinnerung an das, was Konflikte eskalieren ließ. Was zu Kriegen führt. Einander zugewandt sein in Offenheit – wenn ein solcher Gedanke bei der Lektüre in vielen jungen Köpfen heranreift, dann hat Madina in den Augen ihrer Schöpferin einen wichtigen Beitrag für Frieden geleistet.
„Solche wie dich können wir hier gut gebrauchen“, sagt am Ende eine Sachbearbeiterin zu Madina. Das gilt auch für Julya Rabinowichs Roman: Solche Romane können wir hier gut gebrauchen.
Er ist 2016 erschienen, ein Jahr nach dem Sommer, in dem so viele Menschen bei uns ankamen und wir uns in Österreich und Deutschland für unsere Willkommenskultur gefeiert haben. Menschen, die Geflohene an Bahnhöfen mit Wasser, Broten und Stofftieren begrüßen; die Kleider, Koffer und Schlafsäcke spenden: Das ist erst drei Jahre her – und erscheint doch so weit weg. Denn inzwischen sprechen wir fast immer von der sogenannten „Flüchtlingskrise“.
Man hört und liest dieses Wort inzwischen so häufig, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt, welcher ungeheuerliche Gedanke darin steckt: dass wir Menschen in Not zur Ursache einer Krise erklären. Es ist doch genau umgekehrt: Die Krise erleben nicht wir, die erleben Menschen, die alles zurücklassen, um zu überleben.
Natürlich heißt das nicht, dass es keine Konflikte gibt und Integration nicht eine große Herausforderung ist. Doch anders als eine Madina, sind wir frei in so vielem. Und jeder kann einen Beitrag leisten, damit der Dazwischen-Raum kleiner wird. Wir können nicht alle solch herausragende Bücher schreiben. Wir müssen noch nicht einmal duftende Seifen hinter losen Kacheln verstecken. Manchmal genügt ein freundlicher Blick oder eine Hand, die wir zum Gruß heben.
Liebe Julya Rabinowich, ich gratuliere Ihnen von Herzen zu der heutigen Auszeichnung!
Katrin Hörnlein
Braunschweig, am 16. Mai 2018