5 Fragen an …
Madeline Stevens
Morgen früh, wenn sie will ist, auf eine Art, ein Roman über Hunger. Hunger auf Essen, Liebe, einen Platz im Leben. Warst du schon einmal so hungrig wie deine Protagonistin Ella?
Ich war auf jeden Fall schon sehr arm und musste darum kämpfen, an drei Mahlzeiten am Tag zu kommen ohne Schulden zu machen. Aber Ellas Hunger reicht tiefer. Sie ist hungrig nach Leben, die nicht ihr eigenes sind, nach anderen Vergangenheiten, und auch das kann ich nachvollziehen. Bevor ich Schriftstellerin wurde, wollte ich Schauspielerin sein, und obwohl es mir inzwischen schwer fällt, mir diesen Wunsch ins Gedächtnis zu rufen, hat er mich als Kind verzehrt. Er hat mich nachts wachgehalten. Ich wollte nicht nur reich und berühmt werden, sondern auch viele Leben auf einmal leben. Aus demselben Grund habe ich angefangen zu schreiben. Es war ein Weg, meine eigenen Erfahrungen zu vervielfachen.
Du hast lange als Kindermädchen gearbeitet, wie Ella auch. Wie haben deine eigenen Erfahrungen dein Schreiben beeinflusst? Gibt es ein bestimmtes Ereignis, an das du immer wieder zurückdenkst?
Als weiße, gebildete Frau hatte die Arbeit einen merkwürdigen Beigeschmack. Ich fühlte diese riesige Kluft zwischen meinen Arbeitgeber*innen und mir, aber sie sahen mich als eine von ihnen. Mir wurde ein (ungerechtfertigtes) Vertrauen entgegengebracht, das ich nicht genossen hätte, würde ich anders aussehen.
Eines Abends sollte ich bis spät abends bei einer Familie bleiben, die Eltern wollten ausgehen. Es war an einem Freitag und die Nachbarn, die ebenfalls Kinder hatten, luden mich ein. Mein Chef sagte, ich solle auf jeden Fall ihren Wein probieren, sie würden immer eine gute Auswahl treffen. Die Nachbarn waren sehr freundlich, schenkten mir immer wieder nach und fragten mich aus, aber weil ich ja bezahlt wurde, hatte ich das Gefühl, über die Kinder wachen und mit ihnen spielen zu müssen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich dachte, was für ein bizarrer Beruf das ist, zwischen Kindern und Erwachsenen zu sitzen, teures Sushi zu essen und gleichzeitig so zu tun, als würde man an Plastikkeksen knabbern.
Am Montag darauf kam ich tagsüber wieder und ihr mexikanisches Kindermädchen war zuhause. „Sie haben mit dir Wein getrunken“ fragte sie mich verblüfft. Da habe ich verstanden, dass ich von unseren Arbeitgeber*innen ganz anders behandelt wurde als sie. Wenn die Familie sie gebeten hätte zu bleiben, dann wohl um den Abwasch zu machen, und nicht um mit ihnen Wein zu trinken.
Als Lonnie und Ella ins Metropolitan Museum of Art gehen, meint Ella, Lonnie in einem der Bilder zu erkennen. Suchst du selbst nach bekannten Gesichtern in Kunstwerken? Kann Malerei auf eine Weise berühren, wie es die Literatur nicht kann?
Als Kind hatte ich das American Girl Magazine abonniert. Am Ende jeder Ausgabe stand ein berühmtes Gemälde und darunter ein kurzer fiktionaler Text über das Leben der dargestellten Personen. Eins der Bilder war Contes de la Jungle (Dschungelgeschichten) von James Jebusa Shannon, das auch in meinem Roman vorkommt. Es zeigt mehrere junge Mädchen, und eins davon blickt starr nach vorne, als habe sie das Posieren vergessen, als wäre sie in Gedanken ganz weit fort – vielleicht in einer Geschichte, die sie sich gerade ausdenkt. Als Erwachsene habe ich das Gemälde im Met Museum entdeckt. Ich musste mich in New York zu der Zeit wirklich durchbeißen und habe mich sehr weit weg von Zuhause gefühlt. Aber in dem Moment war es, als würde ich eine alte Freundin treffen, das Gemälde hat einen so starken Eindruck auf mich gemacht. In den glücklichsten Momenten meiner Kindheit las ich, oder mir wurde vorgelesen. Ich konnte mich selbst in diesem Mädchen erkennen, das anwesend und abwesend zugleich war. Ich fand es irgendwie erschütternd, dass jemand, der mir fremd war, dieses Bild erschaffen konnte. Es ist so wichtig, dass wir uns selbst in Kunstwerken wiederfinden können, weil uns das an unsere Menschlichkeit erinnert, an Momente von Schönheit und Schmerz, die alle Menschen miteinander teilen. Das ist auch der Grund, warum Repräsentation und Diversität in der Kunst so immens wichtig sind.
Du unterrichtest Kreatives Schreiben. Wie beeinflusst die Lehre dein eigenes Schreiben?
Ich habe schon alle Altersklassen unterrichtet, aber momentan arbeite ich mit Kindern in einem Nonprofit-Programm. Ich liebe Kinder und die Arbeit mit ihnen, weil sie nicht dieselben Komplexe wie Erwachsene haben. Wenn sie etwas erschaffen, sind sie mit dieser absoluten Freude erfüllt. Sie wollen ihre Texte sofort laut vorlesen. Sie wissen noch nichts von den Existenzängsten der erwachsenen Künstler*innen, davon, wie schwer es ist, Kunst zu machen, auf die man stolz ist und die gleichzeitig von anderen Menschen beurteilt wird. Ihr Schreiben ist eine Fortsetzung des Spielens – was nicht heißt, dass sie es nicht Ernst nehmen! Spielen ist für Kinder eine sehr ernste Sache, aber sie wird nicht auf dieselbe Art und Weise beurteilt wie die Arbeit von Erwachsenen. Die Geschichte hat ihren Zweck erfüllt, wenn sie das Kind während des Schreibens unterhält, egal, was am Ende dabei herauskommt. Wenn mir das Schreiben schwerfällt, versuche ich, mich darauf zu besinnen – auf diese Energie, auf die Betonung des Spielerischen – und dann meinen Fokus auf den Prozess und nicht auf das Ergebnis zu verlagern. Tatsächlich ähnelt Schreiben dem Spielen mit Puppen sehr. Die Puppen existieren nur auf dem Papier.
Ella, die eine so manipulative Figur ist und besonders Lonnie gegenüber manchmal richtiggehend grausam wird, gibt in deinem Roman immer auf Baby William acht und scheint ihn ehrlich zu lieben. War das eine bewusste Entscheidung?
Von Anfang an war mir klar, dass William nichts Schlimmes passieren sollte. Es ist einfach, ihn in Gefahr zu bringen, weil er so unschuldig und verletzlich ist, aber ich wollte, dass er stattdessen ein stilles kleines Kraftzentrum im Roman darstellt, er nimmt alles wahr. Und am Ende ist lassen ihn die Ereignisse doch nicht unberührt zurück, aber es ist eine subtilere Art der Verletzung, die komplizierter und weitreichender ist als offene Gewalt.
Ella beschäftigt sich wie besessen mit Reverend LeRoi, einem ortsansässigen Serienmörder und Sektenführer. Gab es diesen Reverend wirklich? Warum übt er eine so große Anziehungskraft auf Ella aus?
Reverend LeRoi basiert lose auf einem tatsächlichen Serienmörder, der wie Ella im New Yorker Bezirk Crown Heights lebte: „Doc“ LeGrand. Ich habe einige Details verändert, aber die Geschichte ist eine ähnliche. LeGrand führte ein Haus voller „Ehefrauen“, die sich als Nonnen verkleiden mussten und in der Umgebung um Spenden für ein fiktives Waisenhaus bettelten. Über die Jahre verschwanden viele dieser Frauen, ihre Überreste wurden Jahre später in einem See entdeckt.
Ich glaube, Gruselgeschichten, die an realen Orten stattfanden, sind immer besonders spannend, weil man den Ort des Geschehens immer noch besuchen kann. Man hat es nicht mit einem Filmset zu tun, sondern kann sehen, wo diese fürchterlichen Geschichten passiert sind und sich fragen, was von ihnen an einem bestimmten Ort verbleibt. Die Geschichte von LeGrand hat mich besonders gefesselt, weil ich noch nie davon gehört hatte, bis ein Streifenpolizist eine Freundin von mir vor den Männern in LeGrands Haus warnte. Viele der Anwohner*innen wissen bis heute nicht, was in diesem Haus passiert ist, während Figuren wie Charles Manson inzwischen tief in unserer Kulturgeschichte verwurzelt sind. Der Unterschied ist offensichtlich: Mansons Opfer waren reich, weiß und berühmt, während LeGrand arme Menschen aus zerrütteten Familien und People of Color zu seinen Opfern machte.
Du scheinst deine Figuren sehr gut zu kennen und zu lieben. War es schwer, sie mit der Veröffentlichung des Buchs hinter dir zu lassen?
Ich habe Morgen früh, wenn sie will in sechs schwierigen Jahren geschrieben. In der Zeit hatte ich Probleme, die Miete zusammenzubekommen und gleichzeitig Essen kaufen zu können. Die zehnstündigen Arbeitstage und die Kinder laugten mich aus, ich befürchtete, nie als Schriftstellerin ernst genommen zu werden und musste der Tatsache ins Auge sehen, dass mein erster Roman, den ich an der Uni geschrieben hatte, nie veröffentlicht werden würde. Als ich Morgen früh, wenn sie will beendet hatte und Megan Lynch, meine Lektorin, mich anrief und mit dem Manuskript zufrieden war, musste ich weinen. Ich wollte den Text und diese Phase in meinem Leben einfach hinter mir lassen.
Danach war ich kurz besorgt, dass ich keine neuen Einfälle mehr haben würde, aber es kam sofort einer! Ich bin gerade mittendrin in meinem neuen Buch und freue mich, dass ich mich ganz hineinfallen lassen kann.
5 Dinge, die wir nicht über Madeline Stevens wussten
Als ich klein war, las meine Mutter mir immer Unsere kleine Farm vor, und über Jahre hinweg war Laura Ingalls wie eine Freundin für mich. In der ersten Klasse sagte eine Lehrerin zu meiner Mutter, sie sei besorgt, dass ich über die Ingalls sprach, als wären es echte Menschen. Die ruhige Antwort meiner Mutter war: Sie sind echte Menschen.
Ebenso wie Ella habe ich eine Menge Jobs gehabt. In der Autowerkstatt meines Vaters habe ich Nassschleifen und Perlenstrahlen gelernt, ich habe Popcorn im Kino verkauft, im Einzelhandel gearbeitet, gekellnert, für einen Getränkelieferdienst 200 verschiedene abgefüllte Wassersorten beschrieben und als Sekretärin in einem Tattoo-Studio gejobbt.
Obwohl ich nicht darin ausgebildet bin, liebe ich die bildende Kunst – ich zeichne und male Aquarelle. Seit einer Weile gebe ich Kurse für Kinder aus sozial schwachen Familien in Los Angeles, in denen sie ihre eigenen Graphic Novels erschaffen können. Eines Tages möchte ich auch eine Graphic Novel schreiben.
Ich gucke gerne alte Sitcoms, um mich nach einem langen Schreibtag zu entspannen. Frasier hat mich durch die letzte Manuskriptfassung von Devotion begleitet. Jede Folge ist wie ein dicht gewebter Einakter, und am Ende geht immer alles gut aus. Es ist sehr klug gemacht, aber auch sehr beruhigend.
Ich schreibe nur selten Kurzgeschichten, aber Alice Munro ist wahrscheinlich meine absolute Lieblingsschriftstellerin. Sie kann auf so wenigen Seiten die ganze Breite menschlicher Gefühle erzählen. Die Art, wie ihre Geschichten enden – oft düster –, lässt mich immer tief beeindruckt zurück. Sie hat mir in vielen schwierigen Phasen geholfen und ich habe so viel von ihr gelernt, für das Schreiben, aber auch für das Leben.