Das Antopol-Buch
Das Antopol-Buch
oder Lässt sich die Vergangenheit jemals kennen?
Von Molly Antopol
Im Dezember 2000, nach meinem Collegeabschluss, lebte ich in Israel und landete an den Feiertagen auf einem Fest von Freunden einer Freundin. Bis auf das Mädchen, das mich mitgenommen hatte, kannte ich dort niemanden, und nachdem ich mich kurz am Dessertbüfett herumgedrückt hatte, schaute ich in die Küche und fragte eine ältere Frau an der Spüle, ob ich helfen könne, nur um mich irgendwie zu beschäftigen. Sie reichte mir ein Geschirrtuch. Sie war klein und drahtig, mit rotgefärbten Haaren und so blasser Haut, dass man die Adern darunter erkennen konnte. Beim Plaudern auf Hebräisch dauerte es keine Minute, bevor ihr klar wurde, dass ich keine Israelin war, und sie fragte mich, woher ich komme. Amerika, sagte ich. „Nein“, sagte sie und beäugte mich genauer. „Woher kommst du?“
Ursprünglich stamme meine Familie aus Weißrussland, sagte ich, aus einem kleinen Dorf namens Antopol, ein paar Stunden von Minsk. „Aber davon hat noch nie jemand gehört“, sagte ich. „Es ist nicht mal auf der Landkarte.“
Sie stellte die abgewaschene Schale ab und starrte mich an, als nähme sie mich zum ersten Mal richtig wahr. Dann sagte sie: „Ich komme aus Antopol.“
Ich komme aus einer großen Familie von Geschichtenerzählern, und als Heranwachsende habe ich mir immer gern von den Jahren vor meiner Geburt berichten lassen. Von dem zerbeulten VW-Bus meiner Eltern, in dem sie quer durchs Land reisten, genannt Blue, nach dem Album von Joni Mitchell; Geschichten von der Generation vor ihnen; von den beiden FBI-Männern, die mein Großvater, der aktiver Kommunist war, angeblich jeden Abend beim Essen über den Rasen kommen hörte, noch bevor sie an die Tür klopften – immer dieselben zwei Agenten in steifen braunen Anzügen, die ihn um ein kurzes Gespräch baten.
Und, davor noch, die Geschichten von meiner Urgroßmutter Molly aus Antopol. Sie war die Älteste in ihrer Familie und ließ ihre Geschwister zurück, jedoch mit dem Versprechen, sie nachkommen zu lassen, sobald sie genug Geld zusammengespart hatte (was nie geschah). Zusammen mit anderen jungen Immigrantinnen wohnte sie in Queens in einer von einer entfernten Cousine betriebenen Fremdenpension, die tagsüber zur Näherei wurde, wo Molly Arbeit fand.
Aber das war’s. Ich hatte keine Ahnung, woher Molly eigentlich kam. Dieser Teil von Europa, dieser Teil der Vergangenheit war ein Thema, das immer außen vor blieb, als seien die Geschichten sogar für die Lustigsten meiner Verwandten zu düster, um zu Anekdoten verwurstet zu werden. Ich fragte bewusst nie nach. Vielleicht hatte ja auch niemand eine Antwort. Ich hatte Jahre damit zugebracht, mir ein Bild von dieser Zeit und diesem Ort zu machen, aber alles, was ich mir ausmalte – das Dorf, die Menschen, die karge eisige Landschaft –, fühlte sich so künstlich und kinohaft an, dass ich fast schon die Akkordeons im Hintergrund hören konnte. Vor meinem inneren Auge liefen körnige Schwarzweißfilme von Kosacken ab, die über den Dorfplatz galoppieren. Ich sah Mollys seekranke Reise in die Staaten vor mir: die Kulisse von Manhattan, funkelnd in der Ferne, winzig und grandios, und eine Besetzung aus erschöpften dunkelhaarigen weißrussischen Schönheiten, die sich taumelnd vor der Einwanderungsbehörde in die Schlange einreihen.
***
Aber dort in der Küche in Haifa erfuhr ich zum ersten Mal wirklich etwas über Antopol. Die Frau war jung gewesen, als Molly das Dorf verließ, sie konnte sich kaum noch an sie erinnern, aber dafür kannte sie andere Geschichten. Sie erzählte mir von Rabbi Binyamin und Yossl dem Schneider, von den Geschäften entlang der Pinsker Straße, dem Schlachter, dem Wirtshaus und der Bäckerei. Sie sprach mit den Händen, mit den Augen. Geschichten von Plünderungen, Hungersnöten, von dem Neugeborenen einer Nachbarin, das einer kinderlosen Nichtjüdin „geschenkt“ wurde, trug sie mit der gleichen Lebhaftigkeit vor wie die Anekdoten über das Baden im Karolewski-Kanal an den trägen Sommertagen ihrer Kindheit, als hätte sie diese Geschichten schon so oft Revue passieren lassen, dass inzwischen selbst die schrecklichsten für sie eben nur noch Geschichten waren.
Doch als ich erzählte, dass ich eines Tages gern mal hinfahren würde nach Antopol, holte sie tief Luft. „Es gibt nichts zu sehen“, sagte sie. „Nach dem Krieg gingen drei Juden zurück nach Antopol.“ Sie sah seitlich an mir vorbei, als wären plötzlich auf der leeren Küchenwand Schnappschüsse von dem ausgeweideten Dorf aufgetaucht. Aus dem Nebenraum drangen der Klang eines Klaviers und das helle Gelächter der Feiernden. „Und alle drei sind wieder weg, einer nach dem anderen“, fuhr sie fort. Dann beugte sie sich zu mir herüber und riet mir, ihren Sohn in Tel Aviv zu besuchen. „Er hat ein Buch über Antopol. Ein Gedenkbuch.“
Und so saß ich am nächsten Morgen im Dan-Bus auf dem Weg ins regnerische Tel Aviv zu seiner Wohnung. Der Mann ähnelte seiner Mutter, er war dünn und klein und hatte schläfrige braune Augen, wirkte aber noch israeltypischer als sie, er war laut und ungestüm und drängte mir eine Kleinigkeit zu essen auf, bevor er mich mit meinem Antopol-Buch aus der Tür geleitete. Das Buch war unglaublich dick – so umfangreich wie drei oder vier Jahrbücher zusammen – und in Jiddisch, Hebräisch und Englisch abgefasst. Der Buchdeckel war schlicht und cremefarben, darauf prangte der Name des Dorfes in schwarzer Blockschrift – doch aus der Bindung und dem hochwertigen Papier sprach die immense Sorgfalt, die in die Herstellung geflossen war. Der Sohn der Frau hatte mir erklärt, das Buch diene als Niederschrift der mündlich überlieferten Erzählungen aus Antopol sowie als Denkmal für all jene Dorfbewohner, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen und nie richtig gewürdigt worden waren. Es gebe Hunderte solcher Bücher – auf Jiddisch Yizkor Bikher genannt, zum Gedenken an die im Holocaust dezimierten osteuropäischen Gemeinden.
Es war bemerkenswert, so viele Stimmen auf einmal zu hören: Manche steckten noch immer in der Vergangenheit, andere wollten nichts mehr davon wissen. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, mein Leben lang auf einer stillen, menschenleeren Straße gelebt zu haben, und dann eines Tages kommt die Sonne hervor, alle reißen ihre Türen auf, setzen sich vors Haus und schütten ihr Herz aus.
Am meisten faszinierten mich am Ende wohl die Berichte über die Dorfpartisanen, jene jungen Leute, die im Zweiten Weltkrieg den Ghettos entkommen waren, in den Widerstand gingen und in den Wäldern rings um Antopol hausten. Ich war in den Vereinigten Staaten aufgewachsen und wusste kaum etwas über die Partisanen. Aber in Israel existierte neben den Geschichten über die Lager und Ghettos noch eine andere wesentliche Geschichte: die Heldengeschichte der wehrhaften Juden. Für die russischen und tschetschenischen Kinder, mit denen ich in jenem Jahr in einem Integrationszentrum für Einwanderer arbeitete, stellte der litauische Partisanenführer und Dichter Abba Kovner, der später in Israel lebte, ein nationales Heiligtum dar, während ich in Amerika noch nie etwas gehört hatte von Tuvia und Zus Bielski, zwei der berühmtesten Partisanen, die in die Staaten ausgewandert waren. Über Jahre hatte ich mir Gedanken gemacht über meine Verwandtschaft, die in Antopol geblieben war, und auch über die Freunde und Nachbarn, die Molly zurückgelassen hatte, als sie 1910 auf ihr Schiff ging. Je mehr ich las, desto mehr versuchte ich mir ihr Leben auszumalen, vor dem Krieg und während des Krieges, sowie ihren Tod – und was war mit diesen drei Leuten, von denen die Frau in Haifa gesprochen hatte, die 1945 in ihre Heimat zurückgingen, nur um festzustellen, dass da keine Heimat mehr war?
Mit dem Antopol-Buch wurde dieser ferne, unbekannte Ort für mich endlich lebendig: Die Siegel brachen auf, und ich konnte in die Vergangenheit sehen. In diesem Jahr begann ich selbst Erzählungen zu schreiben, von denen nicht wenige von meiner Familiengeschichte inspiriert wurden.
Auszug. Erschienen in: The New Yorker, 28. Januar 2014. Aus dem Englischen von Monika Schmalz.