In Erinnerung an Umberto Eco
"Grazie, Umberto"
von Jo Lendle, nach seinem Besuch der Trauerfeier in Mailand
Mailand. Zeichen
Die Stewardess verneint meine Frage, ob womöglich Nähzeug an Bord sei. Ich erkläre, das Etikett meiner Krawatte habe sich gelöst, ich sei auf dem Weg zu einer Trauerfeier und wolle zu Ehren des Toten nicht mit baumelndem Etikett herumlaufen. Sie fragt, wer denn gestorben sei. Dann holt sie ihre eigene Handtasche, kramt darin und findet tatsächlich Nadel und Faden.

Der Motorrad-Pizzabote an der Via Boccaccio, wie er beim Warten an der Ampel gedankenverloren seine Transportbox streichelt.
In der Pasticcheria Piazzale Cadorna kostet die heiße Schokolade sechs Euro, dafür lobt die Bedienung überschwänglich mein Parfum, obwohl ich gar keines habe.
Auf dem Weg zum altehrwürdigen Castello Sforzesco an einem Eco Store vorbeilaufen, es gibt dort Tintenstrahlpatronen. Über dem Tor zur Burg prangt das Reiterrelief für Humberto Primo.
Die Bürger der Stadt warten in langen Reihen, die sich kreuz und quer über die Innenhöfe und bis hinaus auf die Straße ziehen. Am Durchgang zum letzten Hof liegt, auf einem blauen Samttischchen, eine einzelne Rose. Menschen stehen im Kreis herum und richten ihre Telefone darauf, um Aufnahmen zu machen.
Eine kleine Bühne ist aufgebaut, an der Wand dahinter stehen reglos aufgereiht Uniformierte und halten die Banner zahlloser Provinzen, Orden, Fakultäten. In den Bogengängen Mitglieder der verschiedenen Polizeieinheiten in der jeweiligen Paradeuniform, einer prächtiger als der andere. Man sieht goldene Legionärshelme, Tropenhelme, Bobbyhelme, Napoleonhüte, Prinz-Heinrich-Mützen. Ist die Kulturgeschichte der polizeilichen Kopfbedeckung Italiens bereits geschrieben?
Musik, Erinnerungen, Gedanken. Ein Schulfreund berichtet, wie er dem Jüngeren vor dessen Militärzeit eingebläut habe, nicht aufzufallen und sich wie ein gewöhnlicher Gefreiter zu verhalten. Als er später bei einem Besuch nach dem Soldaten E. fragte, habe der wachhabende Offizier leise geantwortet: „Der Professor? Der arbeitet.“
Am Ende einer langen Reihe von Ministern, Verlegern, Rektoren, Bürgermeistern, Vorsitzenden, Ehrenpräsidenten, Schauspielern, Weggefährten tritt ein Junge nach vorn und sagt seinen Namen, Emanuele, er sei der Enkel. Über die Menge im Hof hinweg schaut er auf und dankt seinem toten Großvater für all die Geschichten, die er von ihm erzählt bekommen hat.
Grazie, Umberto.
"Wir haben sein Werk, er aber fehlt uns"
von Jo Lendle
Umberto Eco ist tot. Ein großer, kluger, gewitzter Schriftsteller, Philosoph und Bücherliebhaber ist in der Nacht zum 20. Februar gestorben. Wer seine Werke liest, findet nicht nur anregendste Literatur, sondern lernt fragen, zweifeln, denken.
Der Hanser Verlag verdankt ihm unendlich viel – mit der Veröffentlichung von Umberto Ecos erstem Roman „Der Name der Rose“ 1982 wurde der Verlag zu dem, was er ist. Ich bin dankbar, dass Umberto Eco vor wenigen Wochen noch bei uns zu Besuch in Müchen war: zu einer begeisternden Lesung, zu einem Besuch der Inkunabeln der Bayerischen Staatsbibliothek, zum Gespräch über nächste Bücher, die nun ungeschrieben bleiben. Wir haben sein Werk, er aber fehlt uns.
Jo Lendle, 20. Februar 2016
Mein intellektueller Vater
von Orhan Pamuk
Die Nachricht vom Tod Umberto Ecos hat mich sehr erschüttert. Er war ein Schriftsteller, von dem ich ungeheuer viel gelernt habe und der so großen Einfluss auf mich hatte, dass ich sagen darf: Ich habe ihn nicht nur respektiert, sondern sehr gemocht und bewundert.

Als ich in den achtziger Jahren versuchte, mich zu einem postmodernen, experimentell orientierten Autor zu entwickeln, las ich seine Bücher und stellte fest, dass seine postmoderne Verspieltheit, seine ganz eigene Art, sich des historischen Romans mit Witz, Intellektualität und Ironie zu bedienen, für mich sehr hilfreich waren. In dem Teil der Welt, in dem ich lebe, haben wir unsere eigenen Probleme im Umgang mit Geschichte und Tradition. Umbertos Bücher zeigten mir Möglichkeiten, mich diesen Problemen als Autor zu nähern.
Ich war sehr glücklich, als wir uns vor etlichen Jahren in Istanbul kennenlernten und er mich nach Bologna einlud, wo ich an seiner Universität, an seinem Institut für Semiotik, einige Vorlesungen halten durfte. Später trafen wir uns manchmal in Istanbul, saßen in meinem Arbeitszimmer und plauderten. Er war so brillant und geistreich, dass jede Begegnung mit ihm ein großes Vergnügen war. Sie müssen eines wissen: Wann immer man Umberto Eco lauschte, trug man ein Lächeln im Gesicht. Warum? Weil er einem erlaubte, für eine Weile in seiner Welt zu leben, die eine wunderbare Welt des Scharfsinns, des Witzes und des Wissens war. Wissen bedeutete für ihn nicht Macht, sondern Freiheit. Umberto Eco verstand Wissen als schönstes Mittel zu einer fröhlichen, freudvollen Befreiung des Menschen. Dafür habe ich ihn mehr gemocht und bewundert als für alles andere.
Eines Tages, als er mich in Istanbul besucht hat, saß er mir in meinem Arbeitszimmer in einem Lehnstuhl gegenüber. Als ich ihm erzählte, dass ich diesen Lehnstuhl von meinem Vater geerbt habe und mich oft daran erinnere, wie mein Vater daringesessen hat, als ich noch ein Kind war, nickte Umberto und sagte, dass er genauso alt sei wie mein Vater. Ich glaube, dass er damit andeuten wollte, dass er auf eine gewisse Weise wie ein Vater für mich war. Ich gebe ihm recht: Umberto Eco, von dem ich so viel lernen durfte, war eine intellektuelle Vaterfigur für mich. Ich bin sehr traurig.
Orhan Pamuk, 20. Februar 2016
Aus dem Englischen von Hubert Spiegel
Der Text ist ebenso in der F. A. Z. vom 22. Februar erschienen