
Der Boss hat mein Buch gelesen
Als Mexikos Drogenbaron El Chapo verhaftet wurde, lag auf seinem Bett Roberto Savianos Zero Zero Zero. Der Autor wundert sich darüber.
Von Roberto Saviano
In einem der Verstecke des Chapo Guzmán in Las Piedrosas, im mexikanischen Gebirgsmassiv Sierra Madre Occidental, wurde ein Exemplar meines Buches Zero Zero Zero gefunden. Das teilen mir ein paar Carabinieri mitten in der Nacht mit. Ich will es erst nicht glauben, dann aber zeigt man mir das Video, das vom mexikanischen Militär aufgenommen und auf der Homepage der mexikanischen Tageszeitung El Universal veröffentlicht wurde, und alles wird mir klar. Im Innern eines Bunkers, das ganz von einem Bett beherrscht wird, sieht man inmitten von grellbunten Hemden mein Buch liegen. Der Kommentar im Video behauptet dasselbe. Ich spule zurück, um sicherzugehen: tatsächlich, da ist es. Ich erkenne das Cover, die mexikanischen Soldaten haben sich nicht getäuscht. Jedes Mal, wenn in den Bunkern der Bosse ein Buch, eine Platte mit klassischer Musik oder ein Kunstwerk gefunden wird, löst das eine Kettenreaktion von erstaunten und empörten Kommentaren aus. Mich überrascht es keineswegs, dass die Bosse lesen. Ich bin im Laufe meines Lebens sehr vielen Bossen von Mafiakartellen begegnet, ich sah sie in Gerichtssälen Urteile und Protokolle lesen, und dank meiner Kenntnisse ihres Milieus kann ich sagen, ohne als Provokateur dazustehen, dass das Lesen sogar eine typische Eigenschaft ist. Die Tatsache, dass die Bosse viele Stunden in geschlossenen Räumen, Bunkern, Gruben, Gefängnissen verbringen müssen, zwingt sie zu großer Selbstdisziplin, bei der das Lesen eine herausragende Rolle spielt. Ihren eigenen Aussagen zufolge gehört das Lesen zu ihren Gewohnheiten. Die Bosse sind längst nicht jene kriminellen, analphabetischen Bestien, als welche sie in vielen amerikanischen Krimis beschrieben werden, sie sind vielmehr erfahrene Geschäftsleute, die lesen, analysieren, studieren, die den Dingen auf den Grund gehen und genau wissen wollen, was die Welt über sie denkt und schreibt. Das eigene Buch auf dem Bett eines dieser Bosse liegen zu sehen, ist schockierend, so als würde es dadurch beschmutzt. Aber das dauert nur einen Augenblick. Über die Macht des Rauschgifthandels zu schreiben bedeutet, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Ich glaube, El Chapo war neugierig, was ich da geschrieben hatte, was man so über ihn und sein Kartell denkt. Mexiko ist heute das Zentrum der Drogenwirtschaft, und Chapo ihr größter Repräsentant.
El Chapo Guzmán ist der lebende Beweis dafür, dass der Name „Narcos“ für die mexikanischen Kartelle einer starken Untertreibung gleichkommt. Es handelt sich um eine Mafia. Der Unterschied wird nicht immer klar, wenn man nur die Polizeiberichte liest, doch man kann es vielleicht so zusammenfassen: den Gangstern geht es um Geld, die Mafiabosse wollen ein Machtsystem errichten (in dem das Geld nur ein Mittel zum Zweck ist). Wer diesen Unterschied begreift, hat schon einen wichtigen Schritt zum Verständnis der Verhältnisse getan. Die kriminelle Wirtschaft floriert. Der Gesamtprofit des Drogenhandels liegt bei 300 Milliarden Dollar; wenn wir also über diesen Persönlichkeiten sprechen, reden wir nicht von Randerscheinungen, sondern von Hauptdarstellern der Weltwirtschaft. Während ich diese Zeilen schreibe, läutet ständig das Telefon, und man fragt mich: Warum? Warum hatte er dieses Buch in seinem Bunker? Ich habe keine Ahnung. Ich suche im Internet bei Bloggern, Chronisten, Lesern nach möglichen Antworten. Einige sind absurd, andere klingen recht plausibel. Manche beziehen sich auf meinen Auftritt im mexikanischen Fernsehen: nach Chapos Festnahme im Februar 2014 hatte ich in einigen Interviews mit mexikanischen Medien darauf hingewiesen, dass seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten dringend erforderlich sei. El Chapo war schon einmal aus einem mexikanischen Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen, das sich während seiner Haft in eine Art Basislager verwandelt hatte, in dem er tun konnte, was er wollte, und von dem aus er vor allem weiterhin sein Kartell kontrollieren konnte. Mexiko hatte sich mehr als einmal als zu „leicht“ für ihn erwiesen. Die Auslieferung in die USA ist das, was mexikanische Drogenhändler mehr fürchten als den Tod („lieber ein Grab in Kolumbien als eine Zelle in den Staaten“, sagte einst Pablo Escobar). Während die Mexikaner damals mit der Auslieferung zögerten, da sie der Welt beweisen wollten, dass sie als freie Demokratie mit ihren Problemen alleine fertig werden, betonte ich, wie gefährlich das sei, da die mexikanische Regierung nicht für El Chapos sichere Verwahrung garantieren könne. Eine Behauptung, die sich schon ein gutes Jahr später als zutreffend erwies, als er erneut aus dem Gefängnis ausbrach. Das war nicht schwer vorherzusehen, alle wussten es, aber, wie so oft in solchen eindeutigen Fällen, blieben die meisten stumm. Es gibt Leute, die sagen, das hätte den Boss neugierig gemacht. Ich bekomme aus Mexiko ganz unterschiedliche Rückmeldungen: manche meinen, er sorge sich über die TV-Serie Zero Zero Zero, an der ich gerade schreibe, und möchte mehr über meine Arbeit erfahren; andere sagen, sein Anwalt habe ihn darauf hingewiesen, dass das Buch eine Gefahr in Bezug auf seine Auslieferung darstellt… wieder andere behaupten, sein Sohn habe es ihm gegeben, nachdem er mein Interview auf CNN gesehen hatte. Als ich in den USA war, hat man mich, kaum angekommen, gefragt, ob es stimmt, dass das Buch von mir signiert und mit einer Widmung versehen sei. Ich hatte keine Ahnung davon, dass meine Unterschrift angeblich darin steht, noch habe ich jemals eine Widmung für El Chapo verfasst, Gott bewahre. Ein chilenischer Journalist fragte mich, ob El Chapo wirklich eine der Quellen für das Buch war. Kurz, zur Zeit stellt alle Welt fantasievolle Theorien auf, manche davon sind absurd, andere etwas überzeugender. Aber ich habe allen Ernstes keine Ahnung. Wie alle Narcos liebt El Chapo die lokale Aufmerksamkeit und fürchtet die Weltöffentlichkeit; denn die kann ihm ernsthaft schaden, bis hin zur Auslieferung, eine Sache, die ein Narco mehr fürchtet als alles andere. Deshalb will er wissen, was man über ihn und sein Kartell sagt. Zugleich gilt, dass es nichts Besonderes ist, wenn ein Boss Bücher liest. Im Bunker des `Ndrangheta-Bosses Pasquale Condello fand man Hundert Jahre Einsamkeit sowie ein Buch von Italo Calvino, beim Camorristen Sandokan wiederum einige Dutzend Abhandlungen über Napoleon. Der Boss Pietro Aglieri las nur theologische Werke, unter Bevorzugung des Heiligen Augustinus. Gió Marazzo erzählte, Raffaele Cutolo habe in seiner Zelle Thomas Hobbes, Platons Staat und Mein Kampf herumliegen gehabt. Oder sollte Eitelkeit das wahre Motiv sein? Wenn dem so ist, müßte El Chapo sehr viel Zeit mit Lesen verbringen, denn über ihn wurde sehr viel geschrieben. Ich glaube, die Bosse bringen deshalb so viel Zeit und Mühe für die Lektüre auf, weil sie dadurch in der zwangsläufigen Isolation ihrer Verstecke einen besseren Blick auf ihre Lage gewinnen. Auch wenn es absurd klingt, glaube ich, dass die Texte über die Mafia ihnen sogar mehr geben können als nur die Information darüber, was über sie gesagt wird. El Chapo ist dabei, die Strategie, mit der die Bosse sich selbst darstellen, zu ändern. In einem Interview der amerikanischen Zeitschrift Rolling Stone leugnet er nicht nur nicht, ein Drogenboss zu sein, sondern brüstet sich sogar damit, der Größte von allen zu sein: „Ich habe mehr Heroin, Amphetamin, Kokain und Marijuana geliefert als irgendjemand sonst in der Welt. Meine Flotte setzt sich aus Unterseebooten, Flugzeugen, Lastwagen und Schiffen zusammen.“ Er schildert sogar, wie er seine Narko-Dollars wäscht, ein von allen Mafiabossen üblicherweise eifersüchtig gehütetes Geheimnis. Sean Penn erzählt, John Gotti, der verstorbene Boss der Gambino-Familie von New York, habe von sich stets gesagt, er sei ein einfacher Geschäftsmann. Wir könnten dazu noch andere Mafiosi zitieren (etwa Pablo Escobar oder Semion Mogilevitsch, Boss der russischen Mafia), die behaupteten, ihren Lebensunterhalt mit Blumenhandel oder Getreideexport zu verdienen. El Chapo dagegen brüstet sich mit seinen kriminellen Fähigkeiten. Und er tut das, weil er weiß, dass sein Leben sich in großes Kino verwandeln könnte. Er weiß, die Leute werden angerührt sein von dem Heldenepos eines Mannes, der mehrfach gefangen genommen worden und wieder entkommen ist. Die neuen Bosse wollen immer mehr Geschichten über sich verbreiten und benötigen daher immer mehr Informationen über das, was man sich über sie erzählt. Der größte Fehler, den man machen kann, ist, sie als simple Kampfmaschinen zu sehen; oder sie anhand der folkloristischen Details zu beurteilen, die über sie im Umlauf sind. Zu glauben, sie wüssten die Welt nicht einzuschätzen oder sie würden sich nicht informieren und auf dem Laufenden halten über die Analysen ihres „Business“, bedeutet, sie zu unterschätzen. Nein, es erschreckt mich nicht, von Chapo gelesen und durchschaut zu werden: das ist in der Regel die zweite Frage, die man mir stellt, gleich nach „Warum gerade dein Buch?“. So wie es mich nicht erschreckt hat zu erfahren, dass man Gomorra im Versteck des Bosses Michele Zagaria gefunden hat. Wenn man einen Mechanismus aufklärt und darstellt, so dient das auch jenem, der von diesem Mechanismus beherrscht wird, er wird versuchen, sich nicht auseinandernehmen zu lassen. Wir können nichts anderes tun, als uns um diese Geschichten zu kümmern, damit sie nicht verloren gehen in den lateinamerikanischen Wäldern – umso mehr, wenn wir hören, dass El Chapo angeblich drei seiner Ingenieure ausgerechnet nach Deutschland geschickt hat, um sich dort kundig zu machen, wie man den Tunnel baut, durch den er dann aus dem Gefängnis entkommen ist. Solche Geschichten gehören mehr zu uns, als wir uns träumen lassen.
Von Roberto Saviano
Aus dem Italienischen von Sabina Kienlechner
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitung “DIE ZEIT”, www.zeit.de
Zero Zero Zero

"Zero Zero Zero"
“Ein Meister der Reportage (…) Stück für Stück deckt Saviano auf, wieso die schmutzige Welt der Bosse und Dealer mit uns allen zu tun hat, mit jedem Bausparer und Kontoinhaber.” Kirstin Hausen, Deutschlandfunk
Der Kampf geht weiter

"Der Kampf geht weiter"
„Mit einfachen, mitunter pathetischen Gesten appelliert Saviano an das staatsbürgerliche Gewissen seiner Leser. (…) Sein Verdienst ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Schriftsteller, der immer noch unter Begleitschutz lebt, ist längst eine Ikone.” Maike Albath, Die Welt
Das Gegenteil von Tod

"Das Gegenteil von Tod"
“Nach seinem Bestseller über die Camorra spricht Roberto Saviano auch in diesem neuen Buch Dinge aus, die in Italien fast niemand zu sagen wagt.” Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Autor

Roberto Saviano
Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, arbeitete nach dem Studium der Philosophie als Journalist. Gomorrha kam rasch nach Erscheinen auf die italienische Bestsellerliste und machte ihn schlagartig berühmt. 2009 erhielt Saviano den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Olof-Palme-Preis für seinen publizistischen Einsatz gegen organisiertes Verbrechen und Korruption.