
Stiftung Bibel und Kultur zeichnet Rafik Schami aus
Im Rahmen des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2015 in Stuttgart hat die Stiftung Bibel und Kultur den Stiftungspreis 2015 an Rafik Schami verliehen.
Die Laudatio hielt Michael Köhlmeier. Sie ist hier in voller Länge nachzulesen.
Scheherazades Bruder – Lobrede auf Rafik Schami
von Michael Köhlmeier

Wie beginnen? Heute fällt mir die Antwort leicht: mit einer Erzählung.
Zwei meiner Freunde schätze ich besonders wegen ihrer Fähigkeiten; diese sind so unterschiedlich, wie sich nur denken lässt.
Der eine ist ein Abenteurer, er hat die ganze Welt bereist, am liebsten treibt er sich in Gegenden herum, die seine „Lebenskreativität“ aufrufen, die ich, mein Leben und meinen Lebensstil bedenkend, nur als „Überlebenskreativität“ bezeichnen kann. Er ist zu Fuß durch den Grand Canyon gegangen, er ist in Borneo in einem Einbaum auf einem Fluss bis ins Meer gefahren, er hat an der Spitze von Südamerika einen nadelspitzen Berg bestiegen, er hat sich im Himalaya einen Fußzehen abgefroren und sich in Australien von Engerlingen ernährt. Einmal kam er in Afrika in ein Dorf, in dem gerade eine Gerichtsversammlung stattfand. Der Häuptling war ermordet worden, über den Mörder saßen die Bewohner des Dorfes zu Gericht. Nach Tagen wurde das Urteil verkündet: Der Mann musste das Dorf verlassen und sollte es nie wieder betreten dürfen. Mein Freund war von den Stammesangehörigen um Rat gefragt worden, und er hatte ihnen geantwortet, denn neben einem halben Dutzend anderen Sprachen, versteht er auch leidlich ihren Dialekt. – Es fällt mir schwer, mich an all die Geschichten zu erinnern, die mein Freund, der Abenteurer, mir schon erzählt hat. Warum aber fällt es mir so schwer? Weil er so viel erlebt hat? Nein, deshalb gewiss nicht, ich habe ein gutes Gedächtnis für Abenteuer. Sondern: Weil er nicht erzählen kann. Er kann ums Verrecken nicht erzählen! Er weiß es selbst und lacht über sich selbst, voll Verzweiflung, Erstaunen und fassungsloser Ironie. Wenn Sie, meine Damen und Herren, ihm zuhören, sind Sie hinterher überzeugt, es gibt nichts Langweiligeres, als zu Fuß durch den Grand Canyon zu gehen, nichts Langweiligeres als in einem Einbaum durch Borneo zu paddeln, an Langeweile vielleicht nur noch zu übertreffen von der Besteigung eines nadelspitzen Berges in Südamerika oder der Zeugenschaft einer afrikanischen Gerichtsverhandlung, bei der es um die Bestrafung des Mörders des Häuptlings geht. Schon nach dem dritten Satz kommt Ihnen das Gähnen. Inzwischen hat mein Freund aufgegeben zu erzählen, er erlebt nur noch.
Mein anderer Freund sagt: „Aber wozu? Wozu erlebt er, wenn er nicht davon erzählt?“
Dieser andere Freund ist ein Angsthase und zwar einer, wie er im Buch steht. Einmal plante er eine Autoreise von Vorarlberg nach Straßburg – Hinfahrt, drei bis vier Stunden –, eine Übernachtung, Hotel bereits gebucht –, Rückfahrt, wieder drei bis vier Stunden, Fahrtrouten ins Navi eingegeben und getestet. Am Tag vor der Abreise besuchte er uns und verabschiedete sich von mir und meiner Frau, als lebten wir im siebzehnten Jahrhundert und er habe vor, nach Amerika auszuwandern. Mit beiden Händen hielt er uns fest, Tränen standen in seinen Augen, Tränen des Abschieds und der Angst. Er fürchtet sich vor allem. Aber, meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, wenn er sich auf sein Fahrrad hockt, um von Bregenz nach Lindau zu fahren, auf dem sicheren Radweg, versteht sich, dann ist das ein Abenteuer, und er kann davon erzählen, so dass Sie mit offenem Mund dasitzen und nur eine Sorge haben, nämlich dass die Reise und die Erzählung allzu bald enden könnten.
Da dachte ich mir: Nein, auf das WAS kommt es gar nicht so sehr an. Sondern auf das WIE. Nicht, WAS einer erlebt, macht ihn zu einem Erzähler, sondern WIE er das Erlebte darbringt.
Und wenn wir in den Genuss von Was UND Wie kommen?
Ja dann. Dann! Dann halten wir entweder ein Buch von Rafik Schami in der Hand oder wir sitzen in einer Runde und hören ihm zu.
Ich möchte ihnen von meiner ersten Begegnung mit Rafik Schami berichten – ich vermeide zu sagen: ich möchte Ihnen davon erzählen, denn in Anwesenheit von Rafik Schami darf nur einer dieses heilige Wort für sich in Anspruch nehmen, nämlich er.
Es war vor vielen Jahren auf der Buchmesse in Frankfurt. In dem wunderlich-wunderbaren Spiegelzelt auf dem Platz vor den Hallen fanden den ganzen Tag über Lesungen statt. Dutzende Autoren hatten eine Stunde Zeit, um ihr neues Buch vorzustellen. Diese Lesungen – ich habe viele besucht – haben immer etwas Besonderes, etwas Reines, Unschuldiges, Zitterndes. Hat ein Autor, eine Autorin, ein Buch beendet, so braucht er, sie, einige Zeit für den Abschied von seinen Figuren und von sich selbst als demjenigen, der diese Figuren und ihre Welt erfunden hat. Einen Monat, zwei Monate braucht er, drei öffentliche Lesungen oder zehn Lesungen, je nachdem wie lange die Arbeit gedauert, wie tief ins Herz ihres Schöpfers die Charaktere ihre Wurzeln getrieben haben. Der Dichter schämt sich ein bisschen, den Mitmenschen seine Eigenheit vorzulegen.
Und da stand Rafik Schami – alle anderen Autoren vor ihm hatten sich gesetzt –; er stand; stand neben dem Tischchen und dem Sessel, bog das Mikrophon zu sich herauf, hatte sein Buch in Händen, blätterte, schlug auf, blätterte wieder. Ja, dachte ich, das kenne ich. Man bereitet eine Stelle vor und dann im letzten Augenblick meint man, eine andere sei doch günstiger. Aber nun, ja, nun schien es, als habe er die richtige Stelle gefunden. Er holte Luft … Gleich würde die Lesung beginnen …
„Bevor ich beginne“, unterbrach er sich, „muss ich erst kurz erzählen, wie ich auf die folgende Geschichte gekommen bin. Da kannte ich nämlich in Damaskus einen Friseur …“
Und dann erzählte er, frei, das Buch in der Hand, einen Finger zwischen den Seiten, die Geschichte von diesem Friseur – oder vielleicht war es ein Kaffeehausbesitzer, ich erinnere mich nicht mehr so genau, und ich glaube, Rafik auch nicht mehr. Es war jedenfalls eine heitere Geschichte, das weiß ich bestimmt, eine Geschichte, die in Wirklichkeit gar nicht heiter war, aber heiter erzählt wurde; auf eine Weise erzählt wurde, die beweisen sollte und bewies, dass es mit Hilfe der Kunst gelingt, Tragik und Komik zusammenzuführen.
Und dann sagte er: „Also, gut …“
Schlug wieder das Buch auf … blätterte … holte Luft … schloss das Buch … sagte:
„Es ist mir jetzt ein wenig unangenehm, dass die Geschichte von dem Friseur so gut angekommen ist, ich meine, dass Sie darüber lachen mussten, das verdirbt mir ein wenig die Stimmung, die geeigneter wäre für die Stelle, die ich vorbereitet habe. Ein Freund von mir, ebenfalls ein Geschichtenerzähler, warnte mich erst vor kurzem davor …“
Und dann erzählte er die Geschichte dieses Freundes, die von Anfang an so spannend und einnehmend war, dass wir, die wir im Spiegelzelt um den Erzähler herumsaßen, vergaßen, dass wir eigentlich gekommen waren, um etwas aus seinem neuen Buch zu hören.
Sie ahnen natürlich, meine Damen und Herren, wie es weiterging. Rafik hat die Stunde, die ihm gegeben war, nicht dazu verwendet, um uns etwas vorzulesen – warum auch, wir können ja selber lesen –; er hat erzählt, konzentriert und abschweifend zugleich; und ich schwöre, wir alle, die wir ihm lauschten, wir wussten bis zum Schluss nicht, dass er es auf diese Dramaturgie abgesehen hatte; was in mir den Verdacht aufkommen ließ, er wusste es selbst nicht; ja, ich denke noch heute, er hat sich einfach auf den fliegenden Teppich der Erzählung gesetzt und den Wind abgewartet und sich tragen lassen, hat vertraut auf den „Geist der Erzählung“, den unser großer Kollege Thomas Mann in seinem letzten Roman Der Erwählte beschwört:
Wer also läutet die Glocken Roms? – Der Geist der Erzählung. – Kann denn der überall sein, hic et ubique, zum Beispiel zugleich auf dem Turme von Sankt Georg in Velabro und droben in Santa Sabina, die Säulen hütet vom greulichen Tempel der Diana? An hundert weihlichen Orten auf einmal? – Allerdings, das vermag er. Er ist luftig, körperlos, allgegenwärtig, nicht unterworfen dem Unterschiede von Hier und Dort. Er ist es, der spricht: „Alle Glocken läuten“, und folglich ist er´s, der sie läutet.
Meine Damen und Herren, da sah ich ihn – den Erzähler. Das war in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewesen. In Österreich, meiner Heimat, aber auch in Deutschland, hatten wir gerade eine Debatte hinter uns, eine unselige Debatte; einige meinten, das Erzählen sei ans Ende gekommen, man könne nicht mehr erzählen, ja, man dürfe nicht mehr erzählen – graue Theorie, eisgraue, schmallippige Theorie, erfunden von Leuten, die selbst nie erzählt haben – das ist alles längst vorbei, niemand erinnert sich mehr daran, und die sich doch daran erinnern, schütteln den Kopf …
Ja, da sah ich ihn: den Erzähler. Und ich wusste, wer das ist: nämlich der Bruder von Scheherazade. Und mir wurde auf einmal klar – in einem Lichtblick, wie er uns leider so selten gegeben ist, wurde mir klar, dass JEDES Erzählen, das aus dem „Geist des Erzählung“ heraus geschieht und nicht aus erzählfremder Berechnung, ein Erzählen um Leben und Tod ist. Scheherazade, die Schutzheilige unserer Berufung, sie hat es vorgebildet: Sie erzählte um ihr Leben. Nicht der Schlaf ist der Bruder des Todes, das glauben nur die Kinder; der wahre, der giftgefährliche Bruder des Todes, sein Gesell und allerletzter Vollzugsbeamter ist das Vergessen. Wer vergessen wird, stirbt ein zweites Mal; das Vergessen ist der endgültige Triumph des Todes. Und gegen das Vergessen gibt es nur eines: erzählen.
Um das WAS brauchen wir uns, wie gesagt, nicht zu sorgen. Immer und überall passiert etwas. Allein, dass auf die Nacht der Tag folgt, ist ein Ereignis; dass sich die Jahreszeiten wenden, dass geboren, gestorben, gekränkt und verziehen wird, dass geliebt und gestritten wird – das alles ist Stoff, unaufhörlich, sich wiederholend, sich neu zeigend, sich gegenseitig erklärend, sich selbst erklärend. – Nein, das WAS müssen wir nicht lange bereden und befragen.
Aber das WIE. Wie wird aus einem Geschehnis eine Erzählung?
Hemingway schreibt am Beginn von Tod am Nachmittag, er sei eines Tages draufgekommen, was die schwierigste Frage beim Schreiben sei, nämlich: Was geschieht eigentlich bei einer Handlung? – Zum Beispiel bei einem Spaziergang.
Zum Beispiel bei einem Spaziergang durch die Stadt Damaskus – bevor der Bürgerkrieg seine Verwüstungen angerichtet hat.
Der Erzähler nimmt uns an der Hand und führt uns auf der Geraden Straße durch die Altstadt; von der er raunt, es gebe „auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort als diesen“. Und gerne glauben wir ihm. Wir trauen dem Erzähler alles zu. Er spielt auf allen Registern, wie es heißt, und er spielt mit Leichtigkeit. Einmal gibt er den Kolumnisten, der uns von Königin Elisabeth II. berichtet, die sich in dieser Straße in der Manufaktur der Familie Na´ssan ihr Krönungskleid fertigen ließ, „Seidenbrokat der feinsten Art“. Im nächsten Satz bereits verwandelt er sich in den Historiker und erinnert an einen bitteren Christenverfolger zu Beginn unserer Zeitrechnung, der sich hier – ja, eben hier, wo wir gerade stehen! – vom Saulus zum Paulus bekehrte und so vom Verfolger zum Verfolgten wurde; und fügt dann, aus lockerer Hand gestreut, einen Satz an, wie wir ihn in dieser poetischen Lakonie von Historikern allerdings selten hören:
„Ohne Paulus wäre das Christentum ein orientalisches Märchen geblieben.“
In den letzten dreißig Jahren, erfahren wir weiter, verschwanden die Ziegen aus den Straßen der Stadt, und der Erzähler erzählt dies uns gerade in dem Augenblick, als wir meinten, ein Geruch von Ziegendung steige uns in die Nase. Und wieder wandelt er sich, diesmal in den Soziologen, und in wenigen Zeilen liefert er eine Analyse der Stadtentwicklung im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, wie ich sie gescheiter noch nicht gelesen habe:
Mein Nachbar Ismail, ein Stadtplaner, behauptet, dass dadurch (durch das Verschwinden der Ziegen) das Gesicht von Damaskus modernen, städtischer geworden sei. Er irrt sich. Noch nie war Damaskus bäuerlicher als heute. Innerhalb der letzten 30 Jahre hat sich die Einwohnerzahl der Stadt auf 4 Millionen verfünffacht. Die Landflucht hat auch Damaskus nicht verschont. (…) Nun … prägen die innerhalb kürzester Zeit zugewanderten Bauern das Leben in Damaskus. In einer Umkehrung der Verstädterung der Dörfer, die in Europa dem letzten schlafenden Nest seinen dörflichen Charakter raubte, ist in Damaskus ein Verdorfungsprozess im Gange.
In diesen wenigen Zeilen ist eines der größten Probleme der sogenannten Dritten Welt auf den Punkt gebracht: die aus allen Nähten platzenden Mega-Städte, die längst den Begriff Stadt ad absurdum geführt haben, und die Mentalität ihrer Bewohner. Die Sozilogen und Ethnologen, die Kulturwissenschaftler und Politologen, die Statistiker und Architekten errichten für solche Analysen ein breites Bücherregal auf vom Boden bis zur Decke; der Erzähler, der bekanntlich alles in einem ist, zaubert ein Bild – und wir verstehen.
Und gleich reicht er in einem weiteren Bild eine Metapher seiner Poetik nach:
Hier auf dem Gewürzmarkt … entdeckte ich die Verwandtschaft zwischen Lügen und Gewürzen. Die Lüge macht jedes fade Geschehen zum würzigen Gericht. Wer eine gute Nase hat, kann alle Nuancen der Gewürzstimmen hören. Der Thymian der Berge spricht tief, Koriander jugendlich, Zimt süßlich und Pfeffer zurückhaltend, aber verärgert über den vorlauten, aufdringlichen Kreuzkümmel. Der Kardamom spricht vornehm leise, sich seiner Herrschaft bewusst. Nur die Safranblüte verharrt in Schweigen und verlässt ich auf ihre Farbe.
Der Erzähler erhebt den Ort, an dem er seine Geschichte spielen lässt, zur Welt, zum Zentrum der Welt. Für Gabriel García Márquez war dieses Zentrum die kleine Siedlung Macondo in der hintersten kolumbianischen Provinz; für Rafik Schami, der dem großen „Gabo“ auf Augenhöhe gegenübersteht, ist dieses Zentrum die Gerade Straße von Damaskus. Márquez erzählt in Hundert Jahre Einsamkeit und braucht dafür 500 Seiten; Rafik Schami erschafft sein Damaskus, die „verbotene Stadt“, auf zehn und einer halben Seite. Wir glauben beiden jedes Wort. Gerne glauben wir ihnen.
Das sagt sich so flott dahin: Gerne glauben wir dem Erzähler. Aber warum eigentlich? Warum glauben wir Rafik Schami die unglaublichsten Geschichten, und einem anderen Autor glauben wir vielleicht nicht einmal, wenn er sagt, die Ampel wird grün?
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, das Geheimnis einer guten Erzählung verraten.
Es ist RESTLOS in zwei Mini-Theorien entschlüsselt:
Nummer eins: Von dem belgischen Poeten Henri Michaux stammt der Aphorismus:
„Niemals sind wir der Realität gewisser, als wenn sie eine Illusion ist. Denn dann ist sie Realität kraft innerer Zustimmung.“
Das heißt doch nichts anderes als: Der Erzähler muss die Wirklichkeit erst in eine Erfindung, ja, in eine Lüge, verwandeln, um sie zu seiner Wirklichkeit und der Wirklichkeit seiner Zuhörer und Leser zu gestalten. Dann erst glauben wir ihm. Denn was uns nichts angeht, was nicht WIR sind, das betrifft uns nicht und macht uns nicht betroffen. Und was uns nicht betrifft und uns nicht betroffen macht, das glauben wir nicht – auch nicht, wenn es sich lediglich um das Grünwerden einer Ampel handelt.
Ich sehe die Dinge der Welt. In der Erzählung aber muss ich die Welt in die Dinge legen. Als sähe ich die Dinge das erste Mal. Oder das letzte Mal. Wenn das letzte, was der Sterbende sieht, eine zerdrückte Coca-Cola Dose ist, dann enthält diese Dose die ganze Welt. Wenn das erste, was ein Neugeborener sieht, das Tattoo der Hebamme ist, so begrüßt ihn in Form dieser Tätowierung die ganze Welt.
Nur: Der Sterbende kann nicht mehr erzählen, der Neugeborene noch nicht. Der Poet aber imaginiert den Blick des Sterbenden und des Neugeborenen auf die Welt. Und er gibt diese Imagination an den Zuhörer oder den Leser weiter. – Das meint Henri Michaux.
Macondo ist die ganze Welt, die Gerade Straße in Damaskus ist die ganze Welt, ebenso wie das amerikanische Städtchen St. Petersburg, in dem Tom Sawyer und Huckleberry Finn leben, die ganze Welt ist, oder Winesburg Ohio von Sherwood Anderson oder das Florenz des Giovanni Boccaccio oder das Danzig des Günter Grass oder das Internat, in dem der junge Törleß leidet.
Nummer zwei: Eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur stammt von dem bereits erwähnten Heiligen Paulus; und neben allem anderen enthält dieser Text obendrein eine bündige Poetik. Ich spreche von der berühmten Stelle aus dem 1. Korintherbrief:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Es ist gar nicht nötig zu definieren, was hier unter „Liebe“ verstanden wird oder verstanden werden soll. Erstens versagen bei diesem Begriff alle Definitionen, zweitens wissen wir ohnehin, was gemeint ist.
Wie kann der Erzähler eine ihm äußerliche Welt imaginieren, wie kann er eine andere Person imaginieren? Die Frage ist nicht weniger einfach und zugleich verzwickt als jene Hemingways nach dem eigentlichen Geschehnis bei einer Handlung. Shakespeare hat Charaktere erschaffen, als wäre er der Liebe Gott persönlich. Woher hat er die? Er war nicht Richard III. oder König Lear. – Empathie. Die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Ohne Liebe geht das nicht. Da können Ihnen, meine Damen und Herren, die Eisgrauen, die Schmallippigen erzählen, was sie wollen.
Bringen wir Henri Michaux, den Heiligen Paulus und Rafik Schami zusammen, so kommen wir zu dem zwingenden Schluss: Will einer ein guter Erzähler sein, muss er mit Liebe lügen. Ich überlasse es Ihnen, sich auszumalen, was für atmosphärische Spannungen auftreten, wenn diese beiden Ladungen – Liebe und Lüge – aufeinandertreffen.
Viele Menschen haben Angst davor. Sie fürchten sich vor der Poesie; sie wehren sie ab, indem sie versuchen, sie zu verharmlosen. Oder indem sie die Poeten ins Gefängnis sperren. Die Dichter gehören bekanntlich immer zu den ersten. Platon zum Beispiel hätte unseren geehrten Rafik Schami aus seinem Staat verwiesen. „Die Dichter lügen zu viel“, sagte er.
Nur glaube ich, Rafik, du hättest in Platons Staat ohnehin nicht leben wollen. Du wärst freiwillig ausgewandert, wärst wieder einmal ausgewandert. Und ich, Rafik, ich hätte dich gebeten, mich mitzunehmen. Dann würden wir beide wandern und unserer gemeinsamen Leidenschaft frönen, nämlich über Märchen reden … ein großes Thema … ein wunderbares Thema … ein anderes Thema … ein andermal … ein andermal … Und dem Lieben Gott, wer auch immer er sei, danke ich, dass er in seinem Baukasten gekramt und einen wie dich gemacht hat, Rafik, uns zur Freude.