Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch

Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch

Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis für Literatur 2015.

Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis für Literatur 2015. Sie wird für ihr »vielstimmiges Werk geehrt, das dem Leiden und dem Mut unserer Zeit ein Denkmal setze«, so die Jury.

Nobelvorlesung von Swetlana Alexijewitsch: »Von einer verlorenen Schlacht«

Ich stehe auf diesem Podium nicht allein … Ich bin umgeben von Stimmen, von Hunderten Stimmen, sie sind immer bei mir. Seit meiner Kindheit. Ich lebte auf dem Land. Wir Kinder spielten gern draußen, doch abends wurde wir magnetisch angezogen von den Bänken, auf denen sich vor ihren Häusern oder Katen, wie man bei uns sagt, die müden Frauen versammelten. Keine von ihnen hatte noch einen Ehemann, Vater oder Bruder, ich erinnere mich an keine Männer in unserem Dorf nach dem Krieg – während des Zweiten Weltkriegs ist jeder vierte Weißrusse an der Front oder als Partisan gefallen. Die Welt unserer Kindheit nach dem Krieg war eine Welt der Frauen. Am stärksten blieb mir in Erinnerung, dass die Frauen nicht vom Tod sprachen, sondern von der Liebe. Sie erzählten, wie sie sich am letzten Tag von ihrem Liebsten verabschiedet hatten, wie sie auf ihn gewartet hatten und noch immer warteten. Es waren bereits Jahre vergangen, doch sie warteten noch immer. „Mag er ohne Arme zurückkehren, ohne Beine, dann trage ich ihn eben auf dem Arm.“ Ohne Arme … ohne Beine … Ich glaube, ich wusste schon als Kind, was Liebe ist …

Hier einige traurige Melodien aus dem Chor, den ich höre …

Erste Stimme:

„Warum willst du das wissen? Das ist so traurig. Ich habe meinen Mann im Krieg kennengelernt. Ich war Panzersoldatin. Bin bis Berlin gekommen. Ich weiß noch, wir standen vorm Reichstag, damals war er noch nicht mein Mann, und er sagt: ‚Lass uns heiraten. Ich liebe dich.‘ Da fühlte ich mich auf einmal so gekränkt – wir steckten den ganzen Krieg über im Dreck, in Blut, hörten nichts als Flüche. Ich antwortete: ‚Mach erst mal eine Frau aus mir: Schenk mir Blumen, sag mir schöne Worte, und wenn ich demobilisiert bin, dann nähe ich mir ein Kleid.‘ Ich hätte ihn am liebsten geschlagen, so gekränkt war ich. Er hat das alles gespürt, seine eine Wange war verbrannt, sie war voller Narben, und auf diesen Narben sah ich Tränen. ‚Gut, ich heirate dich.‘ Das sagte ich … und konnte selbst nicht glauben, dass ich das gesagt hatte … Um uns herum Ruß, Trümmerbrocken, mit einem Wort – Krieg …‘“

Zweite Stimme:

„Wir wohnten in der Nähe des Atomkraftwerks Tschernobyl. Ich hab als Konditorin gearbeitet, Süßes gebacken. Mein Mann war bei der Feuerwehr. Wir hatten gerade geheiratet, gingen sogar zum Einkaufen Hand in Hand. An dem Tag, als der Reaktor explodierte, hatte mein Mann Dienst bei der Feuerwehr. Sie fuhren in ihren Hemden zum Einsatz, in ihren Alltagssachen; da war eine Explosion im Atomkraftwerk, und sie bekamen nicht mal Schutzkleidung. So haben wir gelebt … Das wissen Sie ja … Die ganze Nacht löschten sie das Feuer und kriegten tödliche Strahlendosen ab. Am nächsten Morgen wurden sie nach Moskau geflogen. Akute Strahlenkrankheit … damit überlebt man nur wenige Wochen … Mein Mann war stark, er war Sportler, er starb als Letzter. Als ich kam, hieß es, er liege in einer Schutzbox, da dürfe niemand rein. ‚Ich liebe ihn‘, bat ich. ‚Sie werden von Soldaten versorgt. Was willst du da?‘ ‚Ich liebe ihn.‘ Sie redeten auf mich ein: ‚Das ist nicht mehr der Mensch, den du liebst, das ist ein Objekt, das dekontaminiert werden muss. Verstehst du?‘ Doch ich sagte mir immer wieder nur: Ich liebe ihn, ich liebe ihn … In der Nacht stieg ich die Feuertreppe hoch zu ihm … Oder überredete die Nachtwächter, gab ihnen Geld, damit sie mich reinließen … Ich habe ihn nicht alleingelassen, ich war bis zum Ende bei ihm … Nach seinem Tod … einige Monate nach seinem Tod brachte ich ein Mädchen zur Welt, sie lebte nur ein paar Tage. Sie … Wir hatten uns so auf sie gefreut, und ich habe sie getötet … Sie hat mich gerettet, sie hat die gesamte Strahlendosis aufgefangen. Sie war so winzig … So ein Krümelchen … Aber ich liebte sie alle beide. Kann denn Liebe töten? Warum ist das so eng beieinander – Liebe und Tod? Die liegen immer beisammen. Wer kann mir das erklären? Ich knie am Grab …‘

Dritte Stimme:

„Als ich das erste Mal einen Deutschen tötete … Ich war zehn Jahre alt, die Partisanen nahmen mich schon mit zu Einsätzen. Der Deutsche lag auf dem Boden, verwundet … Ich sollte ihm die Pistole abnehmen, ich lief hin, doch der Deutsche hatte die Pistole mit beiden Händen gepackt und fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum. Aber er schaffte es nicht, als Erster zu schießen, ich war schneller …
Ich war nicht erschrocken, weil ich jemanden getötet hatte … Und im Krieg dachte ich nie an ihn. Es gab zu viele Tote ringsum, wir waren umgeben von Toten. Ich wunderte mich, als ich viele Jahre später plötzlich anfing, von diesem Deutschen zu träumen. Das war überraschend … Der Traum kam immer wieder … Ich fliege, und er hält mich fest. Ich steige auf … Fliege … fliege … Er holt mich ein, und ich falle, zusammen mit ihm. Ich falle in eine Grube. Ich will aufstehen, mich aufrichten … Aber er lässt mich nicht … Seinetwegen kann ich nicht wegfliegen …
Ein und derselbe Traum … Er verfolgte mich Jahrzehnte …
Meinem Sohn kann ich von diesem Traum nicht erzählen. Als mein Sohn noch klein war, konnte ich es nicht, da las ich ihm Märchen vor. Nun ist mein Sohn erwachsen – aber ich kann es trotzdem nicht …“

Flaubert nannte sich einen Mann der Feder, ich kann von mir sagen, ich bin ein Mensch des Ohres. Wenn ich die Straße entlang gehe und Worte, Sätze, Ausrufe aufschnappe, denke ich immer: Wie viele Romane doch spurlos in der Zeit untergehen. Im Dunkel. Einen Teil des menschlichen Lebens, den mündlichen, konnten wir nicht für die Literatur erobern. Wir haben ihn bisher nicht geschätzt, nicht bestaunt, nicht bewundert. Mich aber hat er in seinen Bann geschlagen und gefangengenommen. Ich liebe es, wie Menschen sprechen … Ich liebe die einzelne menschliche Stimme. Das ist meine größte Liebe und Leidenschaft.

Mein Weg auf dieses Podium dauerte fast vierzig Jahre, von Mensch zu Mensch, von Stimme zu Stimme. Ich kann nicht sagen, dass ich diesem Weg immer gewachsen gewesen wäre – viele Male war ich erschüttert und entsetzt vom Menschen, begeistert und angewidert, wollte das Gehörte vergessen, zurückkehren in die Zeit, da ich noch unwissend war. Auch weinen vor Freude, dass ich den Menschen als schön erlebt hatte, wollte ich oft.

Ich habe in einem Land gelebt, in dem wir von Kindheit an mit dem Sterben vertraut gemacht wurden. Mit dem Tod. Man sagte uns, der Mensch lebe, um sich hinzugeben, zu verbrennen, sich zu opfern. Wir wurden dazu erzogen, den Mann mit dem Gewehr zu lieben. Wäre ich in einem anderen Land aufgewachsen, hätte ich diesen Weg nicht gehen können. Das Böse ist schonungslos, man muss dagegen geimpft sein. Doch wir sind unter Tätern und Opfern aufgewachsen. Auch wenn unsere Eltern uns nicht alles, ja, oft sogar gar nichts erzählten, war doch die ganze Atmosphäre unseres Landes damit infiziert. Das Böse lag die ganze Zeit auf der Lauer.

Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch sie erscheinen mir wie ein einziges Buch. Ein Buch über die Geschichte einer Utopie …

Warlam Schalamow schrieb einmal: „Ich war Teilnehmer einer gewaltigen verlorenen Schlacht um eine wahrhaftige Erneuerung der Menschheit.“ Ich rekonstruiere die Geschichte dieser Schlacht, ihrer Siege und ihrer Niederlagen. Den Versuch, das Himmelreich auf Erden zu errichten. Das Paradies! Die Sonnenstadt! Doch am Ende blieben ein Meer von Blut und Millionen vernichteter Menschenleben. Aber es gab eine Zeit, da konnte sich keine politische Idee des 20. Jahrhunderts mit dem Kommunismus (und der Oktoberrevolution als ihrem Symbol) messen, da besaß keine andere Idee eine so starke und strahlende Anziehungskraft auf westliche Intellektuelle und Menschen in der ganzen Welt. Raymond Aron nannte die russische Revolution „das Opium für die Intellektuellen“. Die Idee des Kommunismus ist mindestens zweitausend Jahre alt. Wir finden sie bei Platon in seiner Lehre vom idealen und gerechten Staat, bei Aristophanes im Traum von einer Zeit, in der alles „Gemeingut“ sein wird … Bei Thomas More und bei Tommaso Campanella … Später bei Saint-Simon, bei Fourier und Owen. Irgendetwas in der russischen Mentalität führte zu dem Versuch, diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Vor zwanzig Jahren nahmen wir mit Flüchen und Tränen Abschied vom „roten“ Imperium. Heute können wir ruhiger auf die jüngste Geschichte zurückblicken, sie als eine historische Erfahrung betrachten. Das ist wichtig, denn die Debatten über den Sozialismus sind bis heute nicht verstummt. Eine neue Generation mit einem anderen Weltbild ist herangewachsen, doch viele junge Menschen lesen wieder Marx und Lenin. In russischen Städten werden Stalin-Museen eröffnet, Stalin-Denkmäler aufgestellt.

Das „rote“ Imperium existiert nicht mehr, der „rote“ Mensch aber ist noch da. Er lebt weiter.

Mein Vater, er ist vor kurzem gestorben, war bis zum Schluss ein gläubiger Kommunist, hütete seinen Parteiausweis. Ich konnte nie das abfällige Wort Sowok benutzen, denn dann hätte ich meinen Vater so nennen müssen, Menschen, die mir nahestehen, Bekannte und Freunde. Sie alle stammen von dort, aus dem Sozialismus. Unter ihnen gibt es viele Idealisten. Romantiker. Heute werden sie anders genannt: Romantiker der Sklaverei. Sklaven einer Utopie. Ich glaube, sie alle hätten auch ein anderes Leben führen können, aber sie führten ein sowjetisches Leben. Warum? Nach der Antwort auf diese Frage habe ich lange gesucht, ich bin durch das riesige Land gereist, das bis vor kurzem UdSSR hieß, habe Tausende Tonbandaufnahmen gemacht. Es war Sozialismus, und es war einfach unser Leben. Stück für Stück, Krume für Krume habe ich die Geschichte des „privaten“, des „inneren“ Sozialismus gesammelt. Habe erforscht, wie er in der menschlichen Seele wirkte. Mich interessierte dieser kleine Raum – der Mensch … der einzelne Mensch. Denn da geschieht im Grunde alles.

Nach dem Krieg schrieb Theodor W. Adorno erschüttert: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ Mein Lehrer Ales Adamowitsch, den ich heute voller Dankbarkeit erwähnen möchte, betrachtete auch das Schreiben von Prosa nach den Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts als Frevel. Hier dürfe man nichts erfinden. Die Wahrheit müsse so dargestellt werden, wie sie sei. Nötig sei eine „Überliteratur“. Zu Wort kommen müsse der Zeitzeuge. Das erinnert an Nietzsches Aussage, ein Künstler halte keine Wirklichkeit aus. Er blicke weg.

Mich hat stets gequält, dass die Wahrheit nicht in ein einziges Herz, in einen einzigen Verstand passt. Dass sie zersplittert ist, vielfältig, unterschiedlich, in der Welt zerstreut. Bei Dostojewski findet sich der Gedanke, dass die Menschheit mehr über sich wisse, viel mehr, als sie in der Literatur festhalten konnte. Was tue ich? Ich sammle den Alltag von Gefühlen, Gedanken, Worten. Ich sammle das Leben meiner Zeit. Mich interessiert die Geschichte der Seele. Das Leben der Seele. Das, was die große Geschichtsschreibung gewöhnlich auslässt, was sie hochmütig übersieht. Ich beschäftige mich mit der ausgelassenen Geschichte. Oft genug habe ich gehört und höre noch heute, das sei keine Literatur, sondern Dokumentation. Doch was ist heute Literatur? Wer hat eine Antwort auf diese Frage? Unser Leben ist heute schneller als früher. Der Inhalt sprengt die Form. Bricht und verändert sie. Alles sprengt seinen Rahmen: die Musik, die Malerei, und auch im Dokument sprengt das Wort die Grenzen des Dokumentarischen. Es gibt keine Grenze zwischen Tatsache und Erfindung, sie gehen ineinander über. Auch ein Zeitzeuge ist nicht unparteiisch. Wenn der Mensch erzählt, ist er kreativ, er ringt mit der Zeit wie der Bildhauer mit dem Marmor. Er ist Schauspieler und Schöpfer.

Mich interessiert der kleine Mensch. Der große kleine Mensch, so würde ich es nennen, denn sein Leiden macht ihn groß. In meinen Büchern erzählt er seine eigene kleine Geschichte und damit zugleich auch die große Geschichte. Was mit uns geschehen ist und mit uns geschieht, ist noch nicht verarbeitet, es muss ausgesprochen werden. Für den Anfang wenigstens ausgesprochen werden. Wir scheuen uns davor, solange wir nicht in der Lage sind, unsere Vergangenheit zu bewältigen. In Dostojewskis Dämonen sagt Schatow zu Stawrogin zu Beginn ihres Gesprächs: „Wir sind hier zwei Wesen und begegnen uns in der Unendlichkeit … zum letzten Mal auf der Welt. Lassen Sie von Ihrem Ton ab und nehmen Sie einen menschlichen Ton an! Reden Sie wenigstens ein Mal mit menschlicher Stimme.“

Ungefähr so beginnen meine Gespräche mit meinen Protagonisten. Natürlich erzählt jeder Mensch aus seiner Zeit heraus, er kann nicht aus dem Nichts erzählen! Aber zur menschlichen Seele durchzudringen ist schwer, sie ist zugemüllt mit dem Aberglauben des Jahrhunderts, mit seinen Lügen und Vorurteilen. Mit Fernsehen und Zeitungen.

Ich möchte einige Seiten aus meinen Notizbüchern zitieren, um zu zeigen, wie die Zeit voranschritt … wie die Idee langsam starb … Wie ich ihren Spuren folgte …

1980–1985

Ich schreibe ein Buch über den Krieg … Warum über den Krieg? Weil wir Menschen des Krieges sind – wir haben immer gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Wenn wir es genau betrachten, denken wir alle wie im Krieg. Zu Hause, auf der Straße. Darum ist ein Menschenleben bei uns so wenig wert. Alles ist wie im Krieg.

Anfangs hatte ich Zweifel. Noch ein Buch über den Krieg … Wozu?

Auf einer meiner Reisen als Journalistin traf ich eine Frau, die im Krieg Sanitäterin gewesen war. Sie erzählte: Sie liefen im Winter über den Ladogasee, der Feind entdeckte sie und begann mit dem Beschuss. Pferde und Menschen versanken unterm Eis. Es war Nacht, und sie packte einen Verwundeten und schleppte ihn ans Ufer. „Ich hab ihn geschleppt, er war nass und nackt, ich dachte, es hätte ihm die Kleider von Leib gerissen“, erzählte sie. „Doch am Ufer sah ich, dass ich einen riesigen verwundeten Fisch rausgeschleppt hatte, einen Beluga. Ich schrie einen dreistöckigen Fluch – die Menschen leiden, aber die Tiere, die Vögel, die Fische – wofür? Auf einer anderen Reise hörte ich die Geschichte einer Sanitäterin einer Kavallerieschwadron, die während eines Gefechts einen verwundeten Deutschen in einen Bombentrichter geschleppt hatte und erst da entdeckte, dass es ein Deutscher war, sein Bein war zertrümmert, er blutete. Aber er war doch ein Feind! Was tun? Dort oben starben die eigenen Jungs! Doch sie verband den Deutschen und kroch weiter. Schleppte einen russischen Soldaten an, er war bewusstlos, und als er zu sich kommt, will er den Deutschen töten, und als der zu sich kommt, greift er zur Maschinenpistole und will den Russen töten. „Ich hab ihnen in die Fresse gehauen, beiden. Unsere Beine“, erinnerte sie sich, „waren voller Blut. Das Blut hat sich vermischt.“

Das war ein Krieg, den ich nicht kannte. Der Krieg der Frauen. Da ging es nicht um Helden. Nicht darum, wie die einen heldenhaft die anderen töteten. Ich erinnere mich an die Worte einer Frau: „Nach dem Gefecht gehst du übers Schlachtfeld. Da liegen sie … Alle jung und so schön. Sie liegen da und schauen zum Himmel. Sie tun dir leid, die einen wie die anderen.“ Dieses „die einen wie die anderen“ sagte mir, worum es in meinem Buch gehen würde. Darum, dass Krieg Mord ist. So haben es die Frauen in Erinnerung. Eben noch hat der Mensch gelächelt, geraucht – und nun ist er nicht mehr da. Am häufigsten sprechen die Frauen über das Verschwinden, darüber, wie schnell im Krieg alles zum Nichts wird. Der Mensch wie die menschliche Zeit. Ja, sie haben sich aus freien Stücken an die Front gemeldet, mit 17, 18 Jahren, aber sie wollten nicht töten. Doch sie waren bereit zu sterben. Zu sterben für die Heimat. Und, ja – aus der Geschichte lässt sich kein Wort streichen –, auch für Stalin.

Das Buch wurde zwei Jahre lang nicht gedruckt, es konnte vor der Perestroika nicht erscheinen. Vor Gorbatschow. „Nach Ihrem Buch geht doch niemand mehr kämpfen“, belehrte mich der Zensor. „Ihr Krieg ist grausam. Warum gibt es bei Ihnen keine Helden?“ Ich habe nicht nach Helden gesucht. Ich habe Geschichte festgehalten, durch die Berichte ihrer unbeachtet gebliebenen Zeugen und Beteiligten. Sie wurden nie befragt. Was die Menschen über die großen Ideen denken, einfache Menschen, wissen wir nicht. Gleich nach dem Krieg hätte ein Beteiligter ihn anders erzählt als zehn Jahre später, natürlich, in ihm verändert sich etwas, denn er legt sein ganzes Leben in seine Erinnerungen. Sein ganzes Ich. Wie er in diesen Jahren gelebt, was er gelesen und gesehen hat, wem er begegnet ist. Woran er glaubt. Und nicht zuletzt, ob er glücklich ist oder nicht. Dokumente sind lebendige Wesen, sie verändern sich mit uns …

Aber ich bin absolut sicher, dass es solche Mädchen wie die Kriegsmädchen von 1941 nie wieder geben wird. Es war die Blütezeit der „roten“ Idee, mehr noch als die Revolution und Lenin. Ihr Sieg verdrängt für sie bis heute den Gulag. Ich liebe diese Mädchen sehr. Aber ich konnte mit ihnen nicht über Stalin reden, darüber, dass nach dem Krieg Züge voller Sieger nach Sibirien gebracht wurden, mit Menschen, die mutiger waren als andere. Die Übrigen kamen zurück und schwiegen. Einmal habe ich gehört: „Frei waren wir nur im Krieg. An der vordersten Front.“ Unser größtes Kapital ist das Leiden. Nicht Öl und nicht Gas, nein, das Leiden. Das ist das Einzige, das wir stetig fördern. Ich suche ständig nach einer Antwort auf die Frage: Warum lässt sich unser Leiden nicht in Freiheit konvertieren? Ist es etwa ganz umsonst? Tschaadajew hatte Recht: Russland ist ein Land ohne Gedächtnis, ein Raum totaler Amnesie, ein jungfräuliches Bewusstsein für Kritik und Reflexion.

Große Bücher liegen auf der Straße …

1989

Ich bin in Kabul. Ich wollte nicht mehr über den Krieg schreiben. Doch nun bin ich in einem richtigen Krieg. In der Zeitung Prawda steht: „Wir helfen dem brüderlichen afghanischen Volk beim Aufbau des Sozialismus.“ Überall Menschen des Krieges, Kriegsgegenstände. Kriegszeit.

Gestern durfte ich nicht mit zum Gefecht: „Bleiben Sie im Hotel, junge Frau. Sonst muss ich mich nachher für Sie verantworten.“ Ich sitze im Hotel und denke: Es liegt etwas Unmoralisches im Beobachten fremden Mutes und fremden Risikos. Ich bin schon über eine Woche hier und werde das Gefühl nicht los, dass der Krieg eine Schöpfung der männlichen Natur ist, mir unbegreiflich. Aber die Alltäglichkeit des Krieges ist gewaltig. Ich entdeckte, dass Waffen schön sind: Maschinenpistolen, Minen, Panzer. Der Mensch hat viel darüber nachgedacht, wie man einen anderen Menschen am besten tötet. Der ewige Streit zwischen Wahrheit und Schönheit. Mir wurde eine neue italienische Mine gezeigt, und meine „weibliche“ Reaktion: „Sie ist schön. Warum ist sie schön?“ Militärisch exakt wurde mir erläutert, wenn man auf diese Mine fahre oder so drauftrete … in diesem Winkel … dann bleibe von einem Menschen nur noch ein Eimer voll Fleisch übrig. Über Unnormales wird hier geredet wie über etwas ganz Normales, Selbstverständliches. Es sei eben Krieg … Niemand verliert den Verstand bei diesen Bildern, darüber, dass da ein Mensch auf der Erde liegt, getötet nicht von einer Naturgewalt, nicht durch das Schicksal, sondern von einem anderen Menschen.

Ich habe gesehen, wie eine „schwarze Tulpe“ beladen wurde, ein Flugzeug, mit dem die Zinksärge mit Getöteten in die Heimat gebracht werden. Den Toten werden oft alte Uniformen aus den vierziger Jahren angezogen, mit Stiefelhosen, manchmal reichen auch diese Uniformen nicht. Soldaten unterhalten sich: „Ins Kühlhaus wurden neue Tote gebracht. Das stinkt wie vergammeltes Wildschwein …“ Darüber werde ich schreiben. Ich fürchte, zu Hause wird man mir nicht glauben. Unsere Zeitungen berichten über Alleen der Freundschaft, die von sowjetischen Soldaten gepflanzt werden.

Ich rede mit jungen Soldaten, viele sind freiwillig hier. Haben sich selbst gemeldet. Mir fiel auf, dass die meisten aus der Intelligenz stammen – Kinder von Lehrern, Ärzten, Bibliothekaren … kurz, von Büchermenschen. Sie träumten aufrichtig davon, dem afghanischen Volk beim Aufbau des Sozialismus zu helfen. Jetzt lachen sie über sich. Sie zeigten mir eine Stelle auf dem Flugplatz, wo Hunderte Zinksärge lagen, geheimnisvoll glänzten sie in der Sonne. Der Offizier, der mich begleitete, sagte spontan: „Vielleicht liegt hier auch mein Sarg … In den sie mich dann legen … Wofür kämpfe ich hier eigentlich?“ Sofort erschrak er über seine Worte. „Schreiben Sie das nicht auf.“

In der Nacht träumte ich von Gefallenen, alle hatten erstaunte Gesichter: Wieso bin ich tot? Bin ich wirklich tot?

Ich begleitete Krankenschwestern in ein Hospital für afghanische Zivilisten, wir brachten den Kindern Geschenke. Spielzeug, Gebäck, Bonbons. Ich sollte fünf Plüschteddys verteilen. Wir kamen an – eine lange Baracke, an Bettzeug hatten alle nur eine Decke. Eine junge Afghanin mit einem Kind auf dem Arm trat zu mir, sie wollte etwas sagen, in den zehn Jahren haben hier alle etwas Russisch gelernt, ich gab dem Kind den Teddy, und er nahm ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?“, fragte ich erstaunt. Die Afghanin riss die Decke von dem kleinen Körper, dem Jungen fehlten beide Arme. „Das waren deine russischen Bomben.“ Irgendwer hielt mich, ich sackte zusammen …

Ich habe gesehen, wie unsere Grad-Raketen Kischlaks in einen umgepflügten Acker verwandeln. Ich war auf einem afghanischen Friedhof, so lang wie ein Kischlak. Irgendwo in der Mitte des Friedhofs schrie eine Frau. Ich erinnerte mich, wie in einem Dorf bei Minsk ein Zinksarg in ein Haus gebracht wurde und wie die Mutter heulte. Das war kein menschlicher Schrei und nicht der Schrei eines Tieres … Genau so ein Schrei wie der auf dem afghanischen Friedhof …

Ich gestehe, ich war nicht sofort frei. Ich war aufrichtig zu meinen Protagonisten, und sie vertrauten mir. Jeder von uns hatte seinen eigenen Weg zur Freiheit. Bis Afghanistan glaubte ich an einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Von dort kehrte ich ohne alle Illusionen zurück. „Verzeih mir, Vater“, sagte ich, als ich ihn besuchte, „du hast mich mit dem Glauben an die kommunistischen Ideale erzogen, aber ich musste nur einmal sehen, wie junge Menschen, eben noch sowjetische Schüler, wie du und Mama sie unterrichten (meine Eltern waren Lehrer auf dem Land), wie diese jungen Menschen auf fremdem Boden andere Menschen töten, als ich das sah, zerfielen alle deine Worte zu Staub. Wir sind Mörder, Papa, verstehst du?!“ Mein Vater fing an zu weinen.

Aus Afghanistan kehrten viele als freie Menschen zurück. Aber ich kenne auch ein anderes Beispiel. Dort in Afghanistan hatte ein junger Mann mich angeschrien: „Was verstehst du als Frau schon vom Krieg? Meinst du, die Menschen sterben im Krieg so wie in den Büchern und Filmen? Da sterben sie schön, aber gestern wurde mein Freund getötet, eine Kugel hat ihn am Kopf getroffen. Er ist noch zehn Meter gelaufen, wollte sein Gehirn festhalten …“ Doch zehn Jahre später erzählt derselbe junge Mann, inzwischen ein erfolgreicher Geschäftsmann, gern von Afghanistan. Er rief mich an: „Was sollen deine Bücher? Sie sind zu grausam.“ Er war nun ein anderer Mensch, nicht mehr der, den ich inmitten von lauter Tod getroffen hatte und der nicht mit zwanzig Jahren sterben wollte …

Ich habe mich gefragt, was für ein Buch über den Krieg ich gern schreiben möchte. Ich würde gern über einen Menschen schreiben, der nicht schießt, der nicht auf einen anderen Menschen schießen kann, den allein der Gedanke an Krieg leiden lässt. Wo ist dieser Mensch? Ich bin ihm nicht begegnet.

1990–1997

Dies russische Literatur ist deshalb interessant, weil nur sie von der einzigartigen Erfahrung erzählen kann, die das einst riesige Land durchgemacht hat. Ich werde oft gefragt: Warum schreiben Sie ständig über Tragisches? Weil wir so leben. Wir leben zwar heute in verschiedenen Ländern, doch überall ist der „rote“ Mensch noch da. Der Mensch aus jenem Leben, mit diesen Erinnerungen.

Über Tschernobyl wollte ich lange nicht schreiben. Ich wusste nicht, wie, mit welchem Instrumentarium, wo ansetzen. Der Name meines kleinen, unscheinbaren Landes in Europa, von dem die Welt zuvor fast nichts gehört hatte, ertönte plötzlich in allen Sprachen, und wir Weißrussen wurden zum Tschernobyl-Volk. Wir hatten als Erste Berührung mit dem Unbekannten. Nun wurde klar: Neben den kommunistischen, nationalen und neuen religiösen Herausforderungen erwarten uns noch weitere, viel schlimmere, totale, die uns bislang verborgen sind. Einiges trat durch Tschernobyl zutage …

Ich erinnere mich, wie ein Taxifahrer wild fluchte, als eine Taube gegen die Windschutzscheibe flog: „Jeden Tag sterben so zwei, drei Vögel. Aber in der Zeitung heißt es, die Situation sei unter Kontrolle.“

In den Stadtparks wurde das Laub zusammengekehrt, aus der Stadt gebracht und begraben. Von verseuchten Orten wurde die Erde abgetragen und ebenfalls begraben – Erde wurde in Erde begraben. Gras wurde begraben und Brennholz. Die Menschen wirkten wie nicht ganz bei Sinnen. Ein alter Imker erzählte: „Ich komme früh in den Garten, und da fehlt etwas, ein vertrautes Geräusch. Keine einzige Biene … Ich höre keine einzige Biene. Keine einzige! Was ist los? Was? Auch am zweiten Tag flogen sie nicht aus und auch nicht am dritten … Dann wurden wir informiert, dass es im Atomkraftwerk einen Unfall gab, und das ist ganz in der Nähe. Aber lange wussten wir gar nichts. Die Bienen wussten Bescheid, aber wir nicht.“ Die Zeitungsberichte über Tschernobyl waren voller Kriegsbegriffe: Explosion, Helden, Soldaten, Evakuierung … Im Kraftwerk selbst ermittelte das KGB. Sie suchten nach Spionen und Saboteuren, es gingen Gerüchte um, der Unfall sei eine geplante Aktion westlicher Geheimdienste, um das sozialistische Lager zu schwächen. Militärtechnik und Soldaten wurden nach Tschernobyl geschickt. Das System handelte wie gewohnt, militärisch, doch der Soldat mit der nagelneuen Maschinenpistole war in dieser neuen Welt eine tragische Figur. Er konnte nur eines: eine enorme Strahlendosis abbekommen und sterben, wenn wieder zu Hause war.

Vor meinen Augen wurde der Vor-Tschernobyl-Mensch zum Tschernobyl-Menschen.

Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen … Die Welt um uns herum war so vertraut und zugleich so fremd. Als ich in die Zone fuhr, wurde ich rasch belehrt: Keine Blumen pflücken, nicht ins Gras setzen, kein Brunnenwasser trinken … Der Tod lauerte überall, aber es war ein irgendwie anderer Tod. Er trug neue Masken. Ein fremdes Gewand. Alte Menschen, die den Krieg erlebt hatten, wurden erneut evakuiert – sie blickten zum Himmel: „Die Sonne scheint … Kein Rauch, kein Gas. Keine Schüsse. Das ist doch kein Krieg? Trotzdem sind wir nun Flüchtlinge.“

Morgens griffen alle gierig nach den Zeitungen und legten sie gleich enttäuscht wieder weg – es waren keine Spione gefasst worden. Kein Wort über Volksfeinde. Eine Welt ohne Spione und Volksfeinde war auch fremd. Etwas Neues begann. Nach Afghanistan machte uns Tschernobyl zu freien Menschen.

Für mich hat sich die Welt geweitet. In der Zone fühlte ich mich nicht als Weißrussin, nicht als Russin und nicht als Ukrainerin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, der womöglich die Vernichtung droht. Zwei Katastrophen trafen zusammen: eine soziale – das sozialistische Atlantis ging unter, und eine weltumspannende – Tschernobyl. Der Untergang des Imperiums beschäftigte alle: Die Sorgen der Menschen galten dem Heute und ihrem Alltag, wie überleben, wovon etwas kaufen? Woran glauben? Unter welche Fahne sich nun scharen? Oder sollten sie lernen, ohne große Idee zu leben? Letzteres war fremd, denn so haben wir nie gelebt. Der „rote“ Mensch stand vor Hunderten Fragen, und er stellte sie sich ganz allein. Noch nie war er so allein gewesen wie in den ersten Tagen der Freiheit. Ich war umgeben von erschütterten Menschen. Ich hörte ihnen zu …

Ich schließe mein Notizbuch …

Was geschah mit uns, als das Imperium unterging? Früher war die Welt klar gegliedert: Täter und Opfer – das war der Gulag, Brüder und Schwestern – das war im Krieg, Elektorat – das war die Zeit der Technologie, die moderne Welt. Früher zerfiel die Welt noch in jene, die saßen, und jene, die einsperrten, heute zerfällt sie in Slawophile und Westler, in National-Verräter und Patrioten. Und in die, die sich etwas kaufen können, und die, die sich nichts kaufen können. Letzteres, würde ich sagen, ist die grausamste Prüfung nach dem Sozialismus, denn noch vor kurzem waren alle gleich. Der „rote“ Mensch hat es nicht geschafft in das Reich der Freiheit, von dem er in der Küche geträumt hatte. Russland wurde ohne ihn aufgeteilt, er stand vor dem Nichts. Gedemütigt und ausgeplündert. Aggressiv und gefährlich.

Was ich auf meinen Reisen durch Russland hörte …

„Modernisierung geht bei uns nur mit Knast und Erschießungen.“

„Der Russe will anscheinend gar nicht reich sein, er hat sogar Angst davor. Was will er dann? Er will immer nur eins: Dass ein anderer nicht reich wird. Reicher als er selbst.“

„Einen ehrlichen Menschen findest du bei uns nicht, aber Heilige schon.“

„Auf eine Generation, die nicht geprügelt wurde, können wir lange warten; der Russe versteht die Freiheit nicht, er braucht Kosaken und die Peitsche.“

„Die beiden wichtigsten russischen Wörter sind Krieg und Gefängnis. Was geklaut, gefeiert, eingefahren … rausgekommen und wieder eingefahren …“

„Das russische Leben muss schlimm sein und erbärmlich, dann erhebt sich die Seele und begreift, dass sie nicht dieser Welt gehört … Je schmutziger und blutiger, desto mehr Raum für die Seele …“

„Für eine neue Revolution fehlt die Kraft und eine gewisse Verrücktheit. Der Mumm. Der Russe braucht eine Idee, die ihm ein Gänsehaut macht …“

„So schwankt unser Leben hin und her, zwischen Chaos und Knast. Der Kommunismus ist nicht tot, der Leichnam ist lebendig.“

Ich bin so kühn zu sagen, dass wir die Chance verpasst haben, die wir in den 90er Jahren hatten. Die Frage, was für ein Land wir wollen, ein starkes oder ein menschenwürdiges, in dem jeder gut leben kann, wurde zugunsten der ersten Antwort entschieden: Ein starkes Land. Es herrscht wieder eine Zeit der Stärke. Russen kämpfen gegen Ukrainer. Gegen Brüder. Mein Vater ist Weißrusse, meine Mutter Ukrainerin. Und so ist es bei vielen. Russische Flugzeuge bombardieren Syrien …

Auf die Zeit der Hoffnung folgte eine Zeit der Angst. Die Zeit dreht sich zurück … Eine Secondhand-Zeit …

Heute bin ich nicht mehr sicher, ob ich die Geschichte des „roten“ Menschen zu Ende geschrieben habe …

Ich habe drei Zuhause: Meine weißrussische Heimat, das Land meines Vaters, wo ich mein ganzes Leben verbracht habe, die Ukraine, die Heimat meiner Mutter, wo ich geboren bin, und die große russische Kultur, ohne die ich mir mich nicht vorstellen kann. Sie sind mir alle lieb und teuer. Aber in unserer Zeit ist es schwer, von Liebe zu sprechen.

Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt

Copyright © The Nobel Foundation 2015
“Svetlana Alexievich – Nobelvorlesung: Von einer verlorenen Schlacht”. Nobelprize.org. Nobel Media AB 2015. Web. 7 Dec 2015.

Über Swetlana Alexijewitsch

Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 im ukrainischen Stanislaw geboren und ist in Weißrussland als Tochter eines weißrussischen Vaters und einer ukrainischen Mutter aufgewachsen. In Minsk studierte sie Journalistik und arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen »Roman in Stimmen«. Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet. So erhielt sie 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als Schriftstellerin, “die die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachzeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verleiht”, so die Begründung der Jury. 2015 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Swetlana Alexijewitschs literarisches Verfahren, das vom weißrussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch inspiriert wurde, erläuterte sie 1998 anlässlich der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung: “Aus tausend Stimmen, Episoden unseres Alltags und Daseins, aus Worten und aus dem, was sich hinter ihnen und zwischen den Zeilen verbirgt, setzte ich zusammen – nein, nicht eine Realität (denn die Realität ist unerkennbar), sondern eine Vorstellung, ein Bild. Ich setze das Bild meines Landes und seiner Menschen zusammen, die in meiner Zeit leben. Ich wünschte, aus meinen Büchern würde eine Art von Chronik werden, eine Enzyklopädie, die mehr als ein halbes Dutzend Generationen umfasst, deren Vertreter ich erlebt habe.”

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